Gegengift

In welcher Verfassung ist Österreich? Eine Frage des Klimas

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Zur Lage der Republik wurde bei einem Symposium des Landes Steiermark ein großer Bogen gespannt. Erwünscht war Kompromisskultur.

Ein Brief flatterte unlängst in die Schreibstuben des Gegengifts. Das Land Steiermark lud zum Symposium „Österreich 22“ in Graz ein, bei dem „Überlegungen zu unserer Republik im 21. Jahrhundert“ angestellt werden sollten: Zentrale Frage: „In welcher Verfassung ist Österreich?“ Präventiv beantwortete sie unser Positivist: „In der von Hans Kelsen!“ Immerhin sei die Bundesverfassung seit Inkrafttreten 1920 meist ein verlässlicher Rahmen gewesen. Wir haben den Kollegen in den Süden geschickt, zu Experten aus Wissenschaft, Wirtschaft, Kultur, Politik und Medien, die über die aktuelle Verfassung redeten – nicht nur des Landes, sondern Europas und der ganzen Welt.

Die Tagung schwankte am Donnerstag und Freitag zwischen Stolz auf Erbrachtes und Angst vor neuen Bedrohungen. Das war bereits beim Eröffnungsstatement des Gastgebers zu spüren. Hermann Schützenhöfer wies darauf hin, wie gut sich die Steiermark derzeit im „größten Wirtschaftsaufschwung seit fünfzig Jahren“ bewähre. Dann kam der Landeshauptmann auf das Klima zu sprechen – das politische. Es sei vergiftet, geprägt von Respektlosigkeit, von Grenzüberschreitungen. Er wünschte sich einen sachlichen Diskurs und hatte noch einen besonderen Wunsch: Das Bundesländer-Bashing gehöre eingestellt.
Den Wunsch erfüllte ihm Claus J. Raidl nicht. Er warf eine reformatorische Brandfackel in die Diskussion, als er infrage stellte, ob Föderalismus tatsächlich immer gut für den Gesamtstaat sei: „Wir müssen den Bürgern begreiflich machen, dass wir kostengünstig und effizient agieren.“ Der Grandseigneur im Reich der Wirtschaft und Finanzen hatte Zweifel, ob wir in einer guten Verfassung seien.
Zuvor hatte Christoph Grabenwarter konstatiert, dass zumindest die Verfassung in guter Verfassung, also leistungsstark sei. In der Zweiten Republik sei sie ein Erfolg und stets zeitgemäß, sagte der Präsident des Verfassungsgerichtshofes. Er forderte mehr Respekt und Willen zum Kompromiss. „Es ist notwendig, das Immunsystem der Verfassung gegen die Gefährdungen der Demokratie zu stärken.“

Die Kultur des Kompromisses sei wesentlich für dieses Land gewesen, meinte die Historikerin Barbara Stelzl-Marx. Als Wegmarken nannte sie das identitätsstiftende Jahr 1955 und den EU-Beitritt 1995. „Der ,homo austriacus‘ hat sich verändert und verändert sich.“ Die Gefährdung der Kultur des Ausgleichs wurde vielfach angesprochen. Man fand rasch einen Schuldigen – das Internet, die bösen Blasen in den sozialen Medien, die den Diskurs vergiften und verkürzen.

Nicht nur digitales Fehlverhalten führte vom Manischen zum Depressiven, sondern auch Probleme, die weit in die Zukunft reichen. Wirtschaftsforscher Christoph Badelt erläuterte die Gefahren von Fiskal-Lücken und Tücken der Demografie, die von der Politik im Budget zu wenig berücksichtigt werden. Die Rechtswissenschaftlerin Eva Schulev-Steindl zeigte, wie viel zu tun sei, um klimaneutral zu werden. Noch pessimistischer klang Klima-Analytikerin Andrea Steiner: „Wir müssen jetzt handeln, wir haben bisher noch keine langfristige, nachhaltige CO2-Reduktion geschafft.“

Als Optimist erwies sich schließlich EU-Kommissar Johannes Hahn. In Krisen sei die Union stets stärker zusammengewachsen. Zugleich lobte er Eigenständigkeit und die „positive Reibung“ kleiner Einheiten: „Ich gehöre nicht zu denen, die Mitgliedstaaten als Nationalstaaten abschaffen möchten.“ Keine Vielfalt dürfe es jedoch bei der Rechtsstaatlichkeit geben: „Die muss respektiert werden.“ Gemeint war damit wohl der eskalierende Verfassungsstreit zwischen Polen und den EU-Institutionen.
Fazit nach der Rückkehr aus Graz: Kelsen konnte gerettet werden. Auch der Föderalismus wird eine Konstante dieses Landes bleiben. Aber wenn man über die Landesgrenzen hinausblickt, sind einige große Fragen akuter Verfasstheit dringend zu lösen.

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