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"Titane": Hier brechen Nasen und Identitäten

Agathe Rousselle als Alexia in Julia Ducournaus "Titane".
Agathe Rousselle als Alexia in Julia Ducournaus "Titane".(c) Wild Bunch
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In Julia Ducournaus Cannes-Gewinner geraten eine emotional erkaltete Einzelgängerin und ein müder Macher aneinander: ein wuchtiges Märchen über liebenswerte Monster.

Ob es wohl Zufall ist, dass es sowohl im Cannes- als auch im Venedig-Gewinnerfilm dieses Jahres – „Titane“ von Julia Ducournau und „Das Ereignis“ von Audrey Diwan – eine Szene gibt, in der die Protagonistin versucht, eigenhändig mit einer Stricknadel abzutreiben? Wahrscheinlich schon. Doch die Parallele zeugt von einer markanten Entwicklung in der zeitgenössischen Kunstfilmkultur – einer gesteigerten Bereitschaft, sich direkt und unverblümt mit geschlechterpolitischen Themen auseinanderzusetzen, mit den oftmals schmerzenden Schnittstellen von Körper, Identität und Gesellschaft.

Vor zehn, zwanzig Jahren wäre ein Film wie „Titane“ wohl noch in der Cannes-Mitternachtsschiene deponiert worden, versehen mit dem damals populären Genre-Label „New French Extreme“: weil darin viel passiert, was vielen viel zu arg ist. Dass seinesgleichen im Wettbewerb an der Croisette laufen „darf“, ist zum Glück keine Neuigkeit mehr. Für einige kam Ducournaus Cannes-Triumph trotzdem überraschend; er kann durchaus historisch genannt werden. Ob seine Strahlkraft zu mehr Akzeptanz von verquerem und konfrontativem Kino führt, muss sich freilich erst weisen.

Zwei dunkle Sterne prallen aufeinander

In Österreich hatte „Titane“ bereits im September Premiere beim Slash-Filmfestival. Heute startet das Düsterdrama bundesweit, am Wochenende auch in Multiplexkinos. Dort tanzt schon sein unwägbar schlingernder Erzählstil aus der Reihe. Wie fasst man dieses finstere Märchen zusammen, zumal spoilerfrei?

Vielleicht so: „Titane“ handelt von zwei dunklen Sternen, die sich näherkommen, kollidieren und schließlich verschmelzen. Einer davon wird gespielt von der queeren 33-jährigen Newcomerin Agathe Rousselle. Ihr Gesicht ist so kantig, dass man Angst hat, sich daran zu schneiden. Sie gibt die junge Alexia. Seit einem Autounfall im Mädchenalter trägt diese unablässig geladene Frau (deren ostentativ abweisende, sichtlich traumagetriebene Art ein wenig an die Hackerin Lisbeth Salander aus Stieg Larssons „Millennium“-Thriller erinnert) eine Stahlplatte im Schädel. Alexia lässt niemanden an sich heran. Bisweilen berechtigt in ihrem beruflichen Umfeld: Sie verdingt sich als Animierdame bei Autoshows, räkelt sich auf Motorhauben für ein vorwiegend männliches Publikum.

Wenn die Kamera draufhält, erwidert sie den Blick – aber apart und aggressiv, nicht einladend. Zudringliche Fans werden entsprechend eiskalt abserviert, mittels besagter Stricknadel: Alexia bohrt sie wüst ins Ohr, bis Schaum aus dem übergriffigen Mund sprudelt.

Der andere, ältere Stern wird verkörpert von Vincent Lindon, einem der prominentesten Charakterköpfe des französischen Arthouse-Films – abonniert auf herzhaft-herbe Männerfiguren mit Gemüt und Temperament. Ducournau schraubt beides hoch, das Harte und das Verletzliche. Lindon spielt Vincent (ha!), einen Feuerwehr-Brigadier, der von tiefer Trauer gezeichnet ist. Muskeln und autoritäres Gehabe helfen dem Steuermann eines flammenvernichtenden Bubenverbunds, seine Sehnsucht nach Nähe zu kaschieren; krampfig in den nackten Hintern injizierte Anabolika kitten mit Ach und Krach seine fortschreitende Brüchigkeit.

Wie sich die Wege dieser liebenswerten Ungeheuer kreuzen, sollte man am besten selbst in Augenschein nehmen. Und zwar auf der größtmöglichen Leinwand, wo sich die ausgeklügelte Bild-, Ton- und Farbdramaturgie Ducournaus (die manchmal an die dröhnenden Neonwelten von Nicolas Winding Refn gemahnt) mit voller Wucht entfalten kann. Dabei wird zum Teil heftig ausgeteilt: Nasenbeinbruch, Mord und Totschlag, Sex mit einem Cadillac. Aber es wird auch getanzt, etwa zu „She's Not There“ von den Zombies oder zu einem Song der Future Islands. Und am Ende geht es in diesem zwischen Realismus und greller Überzeichnung oszillierenden Film um den Ausbruch aus verkrusteten Persönlichkeitsschalen, um Zärtlichkeit, Begegnung und Berührung im Schatten einer gewaltvollen Wirklichkeit: Glühendes Fleisch trifft auf kaltes Metall, feuriges Rot prallt auf frostiges Blau, im lilafarbenen Inferno der Liebe gehen die Rollenbilder knacksend aus dem Leim.

Wobei: So ekstatisch, wie das klingt, ist „Titane“ letztlich nicht. Dafür ist seine Ästhetik zu gewissenhaft durchkomponiert, bis hin zum bedeutsamen Titel: Titanen, so hießen in der antiken Mythologie die unbotmäßigen (Riesen-)Kinder von Gaia und Uranos, deren Anführer Kronos die Olympier zeugte. Es geht Ducournau also um Evolution, um Monster im positiven Sinne, um neue Menschen für eine bessere, weil offenere Welt. In Interviews wird die Regisseurin nicht müde, die Bedeutungen ihres Films punktgenau zu erläutern, seine Mysterien zu lüften. Verständlich: Es hilft, Menschen die Angst vor dem Extremen zu nehmen.

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