Dr. Jekyll oder Mr. Hyde: Wohin steuert Ungarn unter Orbán?

Gastkommentar. Anfang 2011 übernimmt Ungarn den EU-Ratsvorsitz – erste besorgte Stimmen sind zu hören. Aber es gibt auch ein optimistisches Szenario.

Was immer Viktor Orbán ist – er ist, obwohl einer der jüngsten Regierungschefs in der europäischen Geschichte, ein erfahrener Polit-Profi. Zwischen 1998 und 2002 bereits an der Spitze der ungarischen Regierung, hat er ab 2006 – nach seiner zweiten Wahlniederlage – mit einer oft beängstigenden Härte die Schwächen der sozialistisch-liberalen Regierungskoalition genutzt und seiner Partei, den Jungdemokraten (Fidesz), einen Wahltriumph gesichert.

Die linke Opposition ist gedemütigt und wird sicherlich lange brauchen, bis sie dem mit Zweidrittelmehrheit regierenden Orbán wirksam entgegentreten kann.

Eben das ist freilich einer der Punkte, die Sorgen machen: Dem ungarischen Parteiensystem ist die Balance verloren gegangen, die es seit 1990 ausgezeichnet hat. Orbán hat auch schon angekündigt, dass er seine Mehrheit zur Änderung der Verfassung nützen wird. Und die Art und Weise, mit der Ungarns Ministerpräsident seinen Wahlsieg interpretiert, muss auf Widerspruch stoßen: Orbán sieht 2010 als das Jahr einer Wende, einer Transformation, die Ungarn – endlich – auf den richtigen Weg führt.

Hier klingt an, dass die ersten zwanzig Jahre Demokratie in Ungarn nur unzureichend einen Wandel gebracht hätten – was angesichts dessen verwundern muss, dass in diesen 20 Jahren immerhin acht Jahre Mitte-rechts-Parteien regierten; dass Orbán selbst als Regierungschef vier Jahre für Ungarns Politik verantwortlich war.

Der Mythos von Trianon

Orbán spricht mit seiner Rhetorik viele an, die von den Resultaten der ungarischen Demokratie enttäuscht sind – die Verlierer der Transformation, die der relativen sozialen Sicherheit des Kadarismus nachtrauern. Und er spricht auch aus, was in Ungarn atmosphärisch allgegenwärtig ist: den ungarischen Nationalismus. Dieser äußert sich im Mythos von Trianon. Orbáns Mehrheit hat auch schon einen Gedenktag, eine Art zusätzlichen Nationalfeiertag, auf den Kalender des Landes setzen lassen: Zur Erinnerung an den Vertrag, der 1920 Ungarn von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs diktiert wurde.

Kann man sich vorstellen, dass im Jahr 2010 eine deutsche Regierung, ein deutsches Parlament die Einführung eines Gedenktages beschließt, der an Versailles erinnern soll? Und kann man sich vorstellen, dass irgendeine größere Partei in Deutschland ständig an das Schicksal von Elsass-Lothringen erinnert, das Deutschland durch den Vertrag von Versailles verloren ging?

Eben hier setzt die Befürchtung ein, dass Orbáns Regierung innerhalb Europas ein Aufschaukeln der verschiedenen Nationalismen provoziert. Die Beziehungen zwischen der Slowakei und Ungarn waren zuallererst betroffen, und nur der Regierungswechsel in der Slowakei hat eine Eskalation – vorläufig – verhindert.

Orbán hat bereits ein Gesetz durch das ungarische Parlament gebracht, das den ungarischen Minderheiten in den Nachbarstaaten den Zugang zur ungarischen Staatsbürgerschaft erlaubt. Diese Möglichkeit der Doppelstaatsbürgerschaft wird dann für weitere Unruhe in Mitteleuropa sorgen, wenn die Konkretisierung nicht mit den primär betroffenen Nachbarn Rumänien, Slowakei und Serbien akkordiert wird.

Und man kann sich auch vorstellen, was die Umsetzung dieses Planes für die italienisch-österreichischen Beziehungen bedeutet, sollte die Politik Ungarns als Modell für Südtirol gesehen werden: eine Doppelstaatsbürgerschaft auch für Südtirol?

Der ungarische Nationalismus passt nicht so recht in das Europa von heute. Er erinnert an die Wiederkehr der 1920er- und 1930er-Jahre, als Ungarns „Revisionismus“ das Land in die Abhängigkeit von Hitler-Deutschland und in den Zweiten Weltkrieg trieb.

Wiederkehr des Nationalismus

Nun gibt es natürlich heute keine mit dem Deutschen Reich vergleichbare aggressive Großmacht in Europa. Aber das Europa der EU baut auf dem allmählichen Abbau nationalistischer Emotionen – und nicht auf deren politischer Instrumentalisierung auf.

Die kommunistische Diktatur hat – nicht nur in Ungarn – den Nationalismus für überwunden erklärt. Welch eine Fehleinschätzung: Es sind die vormals kommunistischen Staaten, in denen die Wiederkehr des alten Nationalismus zu beobachten ist. Und das ist nicht zum Besten der europäischen Integration.

Passt Orbáns Ungarn überhaupt in das Europa von heute? Ungarn, das in der ersten Jahreshälfte 2011 den Ratsvorsitz der EU übernimmt – wird es unter Orbán ein Faktor der Destabilisierung? Hier ist, bis zum Beweis des Gegenteils, freilich ein realistisch-optimistisches Szenario angebracht: Orbán, der Polit-Profi, kann nun – gestützt auf seine mit populistischen Mitteln erreichte übergroße Mehrheit – vom Wahlkämpfer zum Staatsmann werden.

Immerhin ist seine Partei Fidesz Mitglied der Europäischen Volkspartei, und damit sind die deutsche Kanzlerin, der französische Präsident und der Präsident der EU-Kommission wie auch der des EU-Rates seine Parteifreunde.

Klare Grenzziehung nötig

Orbán weiß ganz genau, dass er als europäischer Politiker den in Ungarn immer wieder offen auftretenden Antisemitismus und die gegen Roma gerichtete alltägliche Gewalt bekämpfen muss. Die Trianon-Nostalgie ist das eine – der offene Rechtsextremismus von Jobbik, der drittgrößten Partei im Parlament, und der Ungarischen Garde ist das andere.

Orbán wird daher großen Wert auf eine klare Grenzziehung legen – zwischen seinem Mainstream-Nationalismus und den an die Pfeilkreuzler (die ungarischen Nazis) erinnernden Nationalismus von Jobbik und der Ungarischen Garde. Er wird verhindern wollen, dass die ungarische EU-Präsidentschaft von einer Debatte über die Europa-Reife seines Landes und seiner Regierung überschattet wird.

Ob es Orbán gelingt, überzeugend zu demonstrieren, dass er seine Rolle als Dr. Jekyll und nicht als Mr. Hyde angelegt hat, hängt freilich von Faktoren ab, die sich seiner Kontrolle teilweise entziehen: Wie rasch können die sozialen Folgen der Wirtschaftskrise eingedämmt werden?

Orbáns Ritt auf dem Tiger

Orbán bleibt ja nichts anderes übrig, als die Austerity-Politik der letzten sozialistischen Regierung fortzusetzen – gegen die er sich als Oppositionsführer so heftig zur Wehr gesetzt hat. Die Wohlstandsindikatoren werden so rasch nicht nach oben weisen können. Und Orbán wird von rechts außen immer wieder daran erinnert werden, dass er mitgeholfen hat, einen Nationalismus salonfähig zu machen, der sich zu verselbstständigen droht.

Ob Viktor Orbán den nationalistischen Tiger reiten kann, muss sich erst herausstellen. Auszuschließen ist es nicht – ebenso wenig wie die Möglichkeit, dass Ungarn zum Unruheherd in der Mitte Europas wird.

Zum Autor


E-Mails an: debatte@diepresse.comAnton Pelinka (*14. 10. 1941) studierte Jus und Politologie in Wien und arbeitete zunächst als Journalist. Von 1975 bis 2006 war er Professor für Politikwissenschaft an der Universität Innsbruck.

Seit 2006 ist Pelinka Professor für Politologie und Nationalismusstudien an der „Central European University“ in Budapest. [APA]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.10.2010)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.