EuGH-Präsident warnt vor Ende der Union

Die EU stehe wegen Angriff auf ihr Recht am Scheideweg.

Brüssel. Der Vorsitzende des Gerichtshofs der EU (EuGH) schlug am Donnerstag Alarm wegen der zunehmenden Angriffe auf seinen Gerichtshof und das Unionsrecht. „Die Autorität des Gerichtshofs wurde in mehreren Mitgliedstaaten herausgefordert, ebenso wie der Vorrang des EU-Rechts, und zwar nicht nur von Politikern und der Presse, sondern auch vor und sogar von nationalen Gerichten, einschließlich gewisser Verfassungsgerichte“, sagte Koen Lenaerts bei der alle zwei Jahre stattfindenden Tagung der Internationalen Föderation für Europarecht in Den Haag. „Das ist eine äußerst ernste Situation, und sie stellt die Union an einen Scheideweg. Ich glaube, dass es keine Übertreibung ist zu sagen, dass die Grundlagen der Union, die auf der Rechtsstaatlichkeit fußt, bedroht sind, dass das Überleben des europäischen Projekts in seiner gegenwärtigen Form auf dem Spiel steht.“

Ohne es namentlich zu nennen, spielte Lenaerts damit auf die sich verschärfenden Angriffe der polnischen Regierung und des von ihr gleichgeschalteten Verfassungstribunals auf die politische Unabhängigkeit der polnischen Richterschaft an. Diese Kampagne gipfelte vor einem Monat in einem Urteil des besagten Verfassungstribunals, demzufolge Polens Verfassung Vorrang vor dem Unionsrecht genieße.

Auch dieses Urteil, das die schwerste Krise der Union seit dem Brexit auslöste, kommentierte Lenaerts indirekt: „Der Gerichtshof hat es durchgängig festgehalten, dass, selbst wenn die Organisation des Justizwesens in den Mitgliedstaaten eine nationale Zuständigkeit ist, alle nationalen Gerichte, die aufgerufen sind, Fragen des EU-Rechts zu entscheiden, ausreichende Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit vorweisen müssen.“ Am 23.November wird der Gerichtshof ein wichtiges Urteil in der Frage der richterlichen Unabhängigkeit in Ungarn veröffentlichen. (GO)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.11.2021)

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