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Kryokonit: Ein Hotspot der Artenvielfalt

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Gletscher sind übersät mit Kryokonit. Diese dunkle Substanz aus Mineralien und Mikroorganismen ist ein Hotspot der Artenvielfalt und wichtig für die Strahlungsbilanz der Erde.

Der erste Wintereinbruch verwandelt die Alpen nun wieder in eine weiße Traumlandschaft. Der Schnee verdeckt, dass die Gletscher auch heuer kleiner wurden. Und er verdeckt auch, dass Gletscher im Sommer nicht weiß, sondern mit dunklen Flecken übersät sind – genauer: mit kleinen Löchern, an deren Grund sich eine dunkle Substanz befindet, über der ein bisschen Wasser steht. Man nennt sie „Kryokonit-Löcher“ – „krýos“ bedeutet altgriechisch Frost, „konía“ Staub.

Staubkörnchen, die sich auf dem Eis ablagern, sind dunkler, sie absorbieren Sonnenstrahlung und erwärmen sich. Dadurch schmilzt in der unmittelbaren Umgebung das Eis, in der entstehenden Pfütze können Mikroorganismen leben. Erst in jüngster Zeit – u. a. durch die Arbeit der Innsbrucker Polarforscherin Birgit Sattler – wurde klar, was dabei genau geschieht: Zu den ersten Lebewesen im Kryokonit zählen Cyanobakterien. Diese treiben Fotosynthese, bilden also aus CO2 und Sonnenenergie organische Substanzen, die wiederum als Nahrung für andere Mikroorganismen (Bakterien, Pilze, etc.) dienen. Sie synthetisieren außerdem dunkle Farbstoffe – so schützen sie sich gegen die starke UV-Strahlung. Dadurch schmilzt noch mehr Eis, und der Lebensraum vergrößert sich weiter. Auf diese Weise entstehen im so lebensfeindlich erscheinenden Eis wahre Hotspots der Artenvielfalt.

Kryokonit gibt es weltweit auf allen Eisflächen. Und wie eine internationale Forschergruppe um Piotr Rozwalak (Uni Poznań) nun durch einen Vergleich von Proben von 33 Gletschern in allen Kontinenten zeigte, gibt es eine immense Vielfalt von Kryokonit-Typen. Diese unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich ihrer mineralischen Bestandteile (die größtenteils aus der direkten Umgebung stammen), sondern auch in ihrer mikrobiellen Zusammensetzung. Letztere ist wesentlich dafür, ob und wie stark sich Mineralien, Mikroorganismen und deren Stoffwechselprodukte zu Kryokonit-Körnchen zusammenballen und wie dunkel diese sind (Science of the Total Environment 807: 150874).

Kryokonit reagiert sehr empfindlich auf die Erderwärmung. Das wiederum hat direkten Einfluss auf den Klimawandel und seine Folgen: Denn je dunkler die Oberfläche eines Gletschers ist, umso weniger Sonnenlicht wird zurück ins Weltall reflektiert (Albedo). Strahlungsenergie wird also aufgenommen, die Gletscher schmelzen noch schneller ab. Dieser sich verstärkende Rückkoppelungseffekt ist bisher in keinem Klimamodell enthalten.

Der Autor leitete das Forschungsressort der „Presse“ und ist Wissenschaftskommunikator am AIT.

meinung@diepresse.com
www.diepresse.com/wortderwoche

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.11.2021)

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