Formel 1

Der Strudel ist der Feind des Nahkampfs

Mehr Action und weniger heiße Luft: Die Formel 1 ist im Begriff, sich in wesentlichen Details neu zu erfinden

»DIE FLÜGELKUNDE DER F1 GEHT AUF DIE 1960er-JAHRE ZURÜCK.«

(c) McKLein

Die Formel 1 2022

Noch drei Rennen in Arabien, dann zieht die Karawane in ihre Winterquartiere. Heraus kommen wird eine neue Art von Formel 1, was insofern stimmt, als die Details der neuen Regeln sich derart aufs große Ganze auswirken, dass mit Retuschen nichts mehr anzufangen ist. Neue Konstruktionen müssen her, die seit gut einem Jahr bei den Teams in Arbeit sind. Es geht zwar wie seit Jahrzehnten um Eingriffe in die Aerodynamik, diesmal aber punktgenau zur Idee, die Rennen spannender zu machen. Und spannend wird es ja nur beim Überholen.

Aus dem beliebten Windschatten der Heinz-Prüller-Reportagen ist durch die Raffinesse des modernen Flügelwerks eine Zone der Verwirbelung entstanden („dirty air“), die das Herankommen an den Vordermann erschwert, Stichwort überhitzende Motoren. Statt spontanem Nahkampf geht es erst einmal um den Umgang mit heißer Luft. Der kommende Katalog der erlaubten Luftleitsysteme schafft also neue Autos und, ziemlich sicher, eine smartere Art von Rennen – ab dem GP von Bahrain im März 2022.

An Schönheit werden diese Autos offensichtlich nicht gewinnen, aber Schönheit war ja nie ein Thema, auch wenn es zwischendurch immer wieder gefälligere Darstellungen der obersten Kategorie des Motorsports gegeben hat. Das Bild eines puren, schlanken, monochromen Ferrari zu Gerhard Bergers Zeit kommt uns mittlerweile wie Mona Lisa entgegen.

Man kann aber auch die Kirche im Dorf lassen, was das aktuelle Ereignis betrifft. Schlaue Register haben gut hundert Regeländerungen der Formel 1 im Lauf der Zeit aufgezeichnet. Die Dinge werden bloß immer komplizierter und kleinteiliger, so wie sich eben die ganze Rennerei aus einem Mechanikersport zu einem monströsen Unternehmen ausgewachsen hat.

Da war noch keine Rede von Formel 1: Den frühen Auswüchsen der Technik (z. B. Kompressor-Urgewalt) begegnete man mit Regeln, die meist mit Art und Größe der Motoren zu tun hatten. Dann kippten sie allesamt – die Fantasien und die Hardware – in den Krieg. Die Franzosen wachten als Erste auf, den „Pokal der Kriegsgefangenen“ gewann Amédée Gordini mit einem Mix aus Fiat und Simca, wie eben die Teile samt Kriegsschrott zusammenpassten. Motorsportler weltweit hatten aber wieder ihre Lobby, Sportbehörde oder Verband genannt. Bis heute: FIA.

Die FIA setzte einen Top-Standard, nannte ihn Formel 1 und machte ab 1950 eine „Weltmeisterschaft“ daraus. Die „Welt“ bestand aber vorerst nur aus Alfa Romeo und Freunden, die ihre Vorkriegsautos am besten in irgendwelchen Scheunen versteckt hatten. Es dauerte drei oder vier Jahre, bis sich die Welt so weit erholt hatte, dass Spitzensport wieder international wurde bis hin, beispielsweise, zum „Wunder von Bern“, 1954. Für die Formel 1 bedeutete das, dass die Engländer kamen und Mercedes alles auf den Kopf stellte. Leitfiguren wie Fangio und Stirling Moss hatten das Format für neue, große Geschichten, und die Formel 1 blieb durchgehend ein verlässliches Mittel, um der Welt davon zu erzählen.

Man erzählte auch Märchen vom technischen Fortschritt, wie er über den Motorsport in die Serienautos fließen würde, aber bei näherem Hinsehen bleibt da kaum etwas übrig. Gern werden Scheibenbremsen und Schlauheiten des Reifenbaus angeführt, aber grundsätzlich waren die Technikergenies der Formel 1 Monomanen ihres Spezialfachs. Und Sicherheit hatte sowieso einen geringeren Stellenwert als für Normalmenschen, selbst mit den Sitzgurten hatte man es weniger eilig als im Straßenverkehr. Auch zu den Kompliziertheiten integrierter Antriebssysteme erklären uns die Fachleute, dass aus der Formel 1 kein Nährwert fürs echte Leben vorgesehen sei.

Also dient das Regelwerk der F1 seit gut siebzig Jahren dazu, den eigenen Zirkus am Leben zu erhalten, indem man Monstrositäten verhinderte (die Turbos der 80er-Jahre wären auf dem Weg Richtung 2000 PS gewesen). Die Marksteine der Entwicklung ergaben sich aus Genieblitzen und nicht aus Vorschriften: Mittelmotor (Cooper, Ende 1950er), Schalenbauweise (Chapman, Anfang 60er), Nutzung des Unterbodens für eine unübersehbare neue Welt aerodynamischer Varianten (Ende 70er), frühe Fantasie für Carbon (Anfang 80er).


Es ändert aber alles nichts daran, dass die F1 rund vier Jahrzehnte lang von einem einzigen Mann dominiert wurde, der etwas smarter, gerissener und rechtzeitiger dran war als der Rest der Zeitgenossen. Bernie Ecclestone, mittlerweile auch auch schon 91, hatte die Finesse, einer total zersplitterten Community den Weg des Geldes zu weisen. Sich selbst dabei zum Milliardär gemacht zu haben, ist im geschichtlichen Zusammenhang eher Kleingeld, das man ihm gern vergönnt.

Der Verband von internationalen Sportfunktionären hatte schon Ende der 1960er-Jahren den Faden verloren, wie man ein potenzielles Mega-Business erwecken und managen könnte. Bernie, Gebrachtwagenhändler aus der frühesten Jochen-Rindt-Zeit, brachte, Schritt für Schritt, alle unter sein Dach: Die Fahrer, die Rennställe, die Rennstreckenbesitzer, altes Geld und frisches Geld und vor allem die neue Marketing-Weltmacht TV. Im Rückblick mag man sich fragen, wie das alles ohne Ecclestone verlaufen wäre, im Spiel der Märkte und Mächte. Keiner weiß es, aber immerhin: Die Marke Formel 1 hat sich als Top-of-the-Top generationenübergreifend erhalten. Eine Geldmaschine mit halbwegs freundlichem Antlitz, wir kennen schlimmere Geschäftsmodelle.

Das führt uns schnurstracks zurück zum Sport. Neuerungen der jüngeren Jahre (Energierückgewinnung, Fahrerschutz am Nacken und frontal) waren natürlich okay, aber auch wieder bloß Reaktionen, um Unheil zu minimieren. Immerhin ist das Halo-System von 2018 bemerkenswert, weil es gegen beträchtlichen Widerstand durchgesetzt wurde und die ohnehin nicht so superschönen Autos noch ein bissl schiacher gemacht hat. Es dürften damit inzwischen schon etliche Menschenleben gerettet worden sein, also ist es tausendmal okay und wird sich auch in die Ästhetik der kommenden Formel 1 fügen – nunmehr ohne Widerspruch.

Bleiben zwei Aufträge der neuen Formel 1. Erstens: Wie man integrierte Systeme glaubhaft weiterentwickelt, ohne sich aus lauter Technik einen Strick zu drehen. Die Ausgliederung der E-Sparte in eine eigene „WM“ bis hin zum lautlos krachenden Debakel war logische Ablenkung von der eigenen Blase. Die verdankt sich eben nur dem Verbrenner, mit allen Arten von Verdichtung. Die laufende Energierückgewinnung folgt einem braven Plan des technologischen Mainstreams, ohne sich besonders ambitioniert aus dem Fenster zu hängen. Also eh okay, vorerst.

Zweitens soll mehr Action in die Sache kommen, damit sind wir bei den Überholmanövern, den Verwirbelungen von „dirty air“ und neuen Vorschriften fürs Flügelwerk. Damit die Schnauze bei Tempo 330 nicht in die Luft geht, braucht es an der Vorderachse Luftleitbleche mit dem Nebeneffekt von „schlechter“ Luft, die unter dem Fahrzeug nach hinten gepresst wird und dort einen Luftstrudel erzeugt. Auch wenn führende Ingenieure sich eleganter ausdrücken würden: Der Strudel ist der Feind des Nahkampfs.

Also muss der Strudel weg, die Luft soll nach oben abziehen, ohne packende TV-Bilder zu irritieren. Nun ist aber die vordere Flügelei zu einer derart wichtigen Stellschraube der gesamthaften Aerodynamik geworden, dass es gleich ums ganze Auto geht.

Die Flappen und Flügeln und Schaufeln und Lamellen und Bargeboards und alles, was aus dem Schiffs- und Flugzeugbau sich in smarten englischen Vokabeln ausdrücken lässt, das ganze Zeug musste in den vergangenen Monaten wieder frisch erfunden werden – mit aller Geheimnistuerei, wie sie typisch ist für die Branche. Im Winter gibt es erste Modellvorstellungen.
Kalender
23 Rennen, Beginn mit Bahrain am 20. März. Neuzugang Miami. Termin für Spielberg: 10. Juli.

Teams
Unverändert zehn Teams. Wichtigste Wechsel: George Russell ersetzt Valtteri Bottas bei Mercedes. Bottas ist neu bei Alfa Romeo, Kimi Räikkönen ist zurückgetreten. Neue Chancen für Nachwuchs: Im Freitag-Training muss einer der Stammfahrer durch einen „dritten Mann“ ersetzt werden.

Neue Regeln
Komplexe Eingriffe in die Aerodynamik bringen weniger Abtrieb an der Vorderachse, das führt zu neuen Unterbodenprofilen und damit weitgehend neu konstruierten Fahrzeugen. Effekt: Überholmanöver werden erleichtert, weniger Verwirbelung im Luftstrom. Größere Reifen sollen helfen. Erhöhtes Mindestgewicht 768 kg. Motoren weitgehend unverändert.

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