Nur wenigen Journalisten ist es bisher gelungen, in das polnische Grenzgebiet zu Belarus vorzudringen. Eine erste Reportage über Not und Leid jener Menschen, die, angelockt von Alexander Lukaschenko, in den Westen aufgebrochen sind. Über Kälte, Tod und Hoffnung sowie das Hin- und Herschieben von Gestrandeten.
Curmi Abu kann nicht mehr gehen. Die alte Frau sitzt auf einer vom Regen durchweichten Plane im Wald unweit des Ortes Narewka außerhalb der von der polnischen Armee abgeriegelten Sperrzone an der Grenze zu Belarus. Zwei ihrer sieben Enkelkinder schmiegen sich an die Großmutter. Körper an Körper suchen sie in ihren nassen Jacken die Wärme des anderen. Ihr Atem bildet Dampfwolken in der nassen Novemberkälte. Curmis vier Monate alte Enkelin sitzt neben der Großmutter auf dem Schoß der Mutter. Das Baby schaut aus tiefen Augenhöhlen auf die absurde Szenerie um es herum. Da ist die kurdische Familie aus dem nordirakischen Dohuk, schmutzig, nass und frierend auf dem Boden des polnischen Waldes. Und da ist eine Traube von Kamerateams aus Japan, Nordamerika und europäischen Ländern, die ihre grellen, blitzenden Apparate auf die vor ihnen zitternden Menschen auf dem mit Laub bedeckten Waldboden richten.
Journalisten sind eilig in die Region unweit der polnisch-belarussischen Grenze gereist, als sich vergangene Woche kriegsähnliche Szenen am Zaun zwischen den Ländern abspielten. Da Polen den Medien den Zugang zu einer drei Kilometer tief ins polnische Territorium reichenden Sperrzone verweigert, kommen die Informationen über die Vorgänge nur in Bruchstücken und gefiltert von polnischen oder belarussischen Behörden ans Tageslicht. Laut polnischem Grenzschutz versammeln sich seit vergangenem Montag 4000 Migranten auf der belarussischen Seite der Grenze. Sie versuchen seitdem, den Zaun mit Holzstämmen aufzubrechen oder sich mit Spaten einen Weg darunter hindurchzugraben. Polen zieht auf der anderen Seite Militär zusammen. Auf Videos in sozialen Medien sind Detonationen zu hören. Die Belarussen werfen den Polen den Einsatz von scharfer Munition vor. Warschau hat die Anschuldigungen bisher nicht kommentiert. Hinter den Geflüchteten hat auch die belarussische Armee einen Riegel gebildet. Zwei Armeen richten nun also ihre Waffen aufeinander, während Tausende in ihrer Mitte einen Grenzzaun überwinden wollen.