Ernährung

"Wir müssen Kommunikationsexperten werden“

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Noch immer gibt es ein Informationsdefizit in Bezug auf Ernährung, das dringend behoben werden muss, sagt Kinderarzt Daniel Weghuber, Mitglied der Nationalen Ernährungskommission, über die Bedeutung der Ernährung, die Prägung einschlägiger Gewohnheiten und die Grenzen von Diäten.

Was hat die Medizin verloren, als sie aufgehört hat, sich um die Ernährung zu kümmern?
Ich glaube, dass sich die Medizin sehr wohl und sehr viel mit Ernährung beschäftigt, und wir wissen unglaublich viel. Aber wissen bedeutet nicht automatisch handeln. Unser Problem als Gesellschaft ist außerdem, dass wir häufig Wesentliches und Unwesentliches nicht mehr auseinanderhalten können. Wir haben eine unglaublich schnelllebige Zeit. Wir sind konfrontiert mit Zahlen, Daten, Fakten, die man kaum mehr trennen kann. Stichwort Fake News. Hier fällt es auch Ärzten gar nicht so leicht, die Inhalte, die nach dem heutigen Stand gesichert sind, an Mann und Frau zu bringen.

Was wäre so eine Botschaft?
Wir müssen das für unterschiedliche Zielgruppen runterbrechen. Ich bin Kinderarzt und als solcher für die Kinder und deren Familie zuständig. Wir wissen, dass die ersten Monate und Jahre langfristig prägend für die spätere Gesundheit des Kindes sind. Diese Prägung, wir sprechen von Programmierung – beginnt im Mutterleib. In dieser Zeit wird das spätere Ernährungs- und Bewegungsverhalten geprägt und zwar bereits durch das Ernährungsverhalten der Mutter in der Schwangerschaft und im Säuglingsalter. Es ist wichtig, dass Mütter ihre Kinder möglichst lange stillen können. Dafür muss ich mich als Arzt einsetzen. Wir sind Ansprechpersonen auch für die Beikost-Ernährung des Kindes. Unsere Empfehlungen sind sehr klar: nicht früher als ab dem fünften Monat, aber dann zügig vielfältig, um richtige Obst- und Gemüsegourmets zu fördern. Kinder, die früher mit den Aromen in Kontakt kommen, wollen später mehr davon.

»„Wir müssen Obst- und Gemüsegourmets fördern. Kinder, die früh mit den Aromen in Kontakt kommen, wollen später mehr davon.“ «

Daniel Weghuber
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Wie kann man diese Botschaft kommunizieren?
Das braucht das Gespräch mit der Mutter, dem Vater. Doch stellen Sie sich eine kinderärztliche Praxis vor mit 150 Patientenkontakten pro Tag, die auch unter wirtschaftlichem Druck steht. Es gibt seit 30 Jahren das gleiche Honorar für die Mutter-Kind-Pass-Untersuchung, die soll aber noch mehr Inhalte vermitteln. Später sollten den Kindern im Kindergarten die Rahmenbedingungen gegeben werden, um in Bezug auf Ernährung zu gustieren und zu erleben. Da gibt es wunderbare Studien, die zeigen, dass wir mit Gestaltungsmaßnahmen des Alltags das Verhalten der Kinder in Bezug auf Ernährung prägen. Das gilt auch für Schüler und deren schulisches Umfeld.

Was steht dem Zusammenhang zwischen Ernährung und Medizin im Weg?
Gerade als niedergelassene Ärzte müssen wir häufig sehr viele Kompromisse machen. Und wenn es um Ernährung geht, dann bedeutet das – und ich spreche jetzt vom individuellen Arzt-Patienten-Kontakt – auch, dass wir eine gewisse Zeit brauchen, um Probleme und Lösungen zu thematisieren. Für mich hat dieses Thema mehrere Facetten. Sprechen wir von der Arzt-Patienten-Beziehung oder von der Rolle der Mediziner im gesellschaftlichen Kontext und unserer Verantwortung, auch Trends einzufordern? Haben wir als Mediziner auch das Selbstverständnis, Prävention und Gesundheitsförderung als Teil unserer Aufgaben zu sehen? Das sind unterschiedliche Themenkomplexe. Aber überall braucht es einen strukturierten Zugang auf wissenschaftlichem Fundament. Ich glaube nicht, dass sich die Medizin heute mit dem Thema zu wenig beschäftigt, aber wir müssen uns bewusst sein, dass wir auch andere Wege finden müssen, allgemeine Botschaften zu vermitteln und sie in der Gesellschaft zu verankern. Wir brauchen im persönlichen Kontakt die Expertise für die Inhalte, und da geht es um die Ausbildung von Medizinern, bei der es große Defizite gibt in Bezug auf Ernährungsmedizin, und es geht um die Kommunikation in einer multimedialen Welt, mit der wir uns auch mehr auseinandersetzen müssen. Wir müssen unsere Kommunikation verändern und Kommunikationsexperten in Bezug auf Ernährung werden.
Wie gesichert ist der Konnex zwischen Medizin und Ernährung? Gibt es da auch Mythen, die gar nicht stimmen?
Es ist völlig klar, dass es einen sehr, sehr engen kausalen Zusammenhang zwischen Fehlernährung und Krankheit gibt. Wir wissen, dass die meisten mit dem Lebensstil assoziierten Krankheiten wie Übergewicht und Zuckerkrankheit, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und gewisse Krebsarten unumstößlich mit Ernährung verbunden sind. Es gibt aber auch eine Reihe von Mythen, eine davon sind Diäten. Meine Lieblingsdiät ist die „Morgen“-Diät, also jene, die morgen beginnt (lacht). Das beweist: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Wir Menschen leben von der Hoffnung, und solange wir zuversichtlich sind, ergreifen wir Maßnahmen. Gerade beim Gewicht gibt es ganz große Missverständnisse. Eines davon ist, dass wir unseren Body-Mass-Index als Erwachsene beliebig verändern können. Dass wir ohne Weiteres langfristig zu- oder abnehmen können. Das geht in gewissen Grenzen, meist aber nur kurzfristig. Aber langfristig wehrt sich unser Körper vehement gegen wesentliche Veränderungen. Es gibt die so genannte Setpoint-Theorie. Wir haben irgendwo einen Punkt, da sind wir daheim und da haben wir nach oben oder unten einen gewissen Spielraum. Das wird in den ersten Lebensjahren geprägt, auf Basis unserer Genetik. Das muss man verstehen, wenn man 120 Kilogramm wiegt und 80 Kilogramm erreichen möchte. Der Diätwahn suggeriert etwas anderes. Die Ziele müssen in der Dimension realistisch und auch machbar sein. Und natürlich kann der eine oder die andere erheblich Gewicht reduzieren und es auch schaffen. Doch der Prozentsatz derer, die mehr als zehn Prozent ihres Gewichtes nachhaltig verlieren können, ist relativ klein. Hier handelt es sich nicht um eine periphere Verhaltensweise wie Socken wegräumen – bei der Ernährung geht es ums Leben.
Daniel Weghuber hat in Wien Medizin studiert. Er ist heute Primarius und Vorstand der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde Salzburg und Professor an der Paracelsus Medizinische Universität. Der Experte ist unter anderem Mitglied der Nationalen Ernährungskomission, Vorstandsmitglied der Österreichischen Adipositasgesellschaft, Vorstandsmitglied der European Childhood Obesity Group und Wissenschaftlicher Leiter des Internationalen Symposiums Obergurgl (www.symposium-obergurgl.at)

Wie findet man denn heraus, ob man wirklich viel abnehmen kann oder ob eine massive Gewichtsreduktion ohnehin nicht möglich ist?
Da ist es wichtig, wie die bisherige Gewichtsentwicklung war. Wenn ich den Werdegang eines Menschen kenne, ob er bereits im Kindesalter von Adipositas betroffen war, kann ich besser verstehen, wie ausgeprägt seine Neigung zu Übergewicht ist. Sollten sich die Lebensumstände so geändert haben, dass es zu einer relativ rasanten Gewichtszunahme kommt, dann ist es etwas anderes, als wenn man kontinuierlich und schon in der Kindheit zugenommen hat. Ich habe zum Beispiel einmal gelesen, dass der männliche Österreicher nach der Hochzeit durchschnittlich neun Kilogramm zunimmt. Gerade Menschen, die plötzlich einen sitzenden Beruf haben oder weil sich im privaten Bereich die Lebensumstände verändert haben und dann zugenommen haben, haben bessere Karten, wieder eine Korrektur vornehmen zu können.

Steckt hinter den schlimmsten Ernährungssünden ein anderes Thema?
Wir wissen, dass die Ernährungskompetenz der Erwachsenen dramatisch abgenommen hat. Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Ein Beispiel: Viele Erwachsene und Kinder kämpfen mit der chronischen Krankheit Adipositas – meist ein Leben lang. Diese Entwicklung wird in den ersten drei Lebensjahren wesentlich programmiert. Hier werden Weichen gestellt. Wir müssen uns mit unseren Maßnahmen auf die Jüngsten und Schwächsten in der Gesellschaft fokussieren und sie stützen. Ernährung ist auch ein Armutsthema. Wir müssen uns darum kümmern, dass die Schwächsten der Gesellschaft Zugang zu entsprechenden Informationen und Ressourcen bekommen, wie sie sich und ihre Kinder besser ernähren können. Nicht umsonst hat die WHO in ihren Nachhaltigkeitszielen das Thema Fehlernährung an die zweite Stelle nach der Armutsbekämpfung gesetzt.

Kann man Menschen dazu zwingen, sich gesund zu ernähren, etwa durch Minimierung von Zucker in gewissen Nahrungsmitteln?
Ich möchte noch einmal auf die Schüler zurückkommen. Wir prägen ihr Verhalten in der Art und Weise, wie wir die Schulen gestalten. Steht ein Automat mit ausschließlich gesüßten Getränken beim Eingang und überall, wo die Jugendlichen Pause machen, oder ist er mit vorrangig wenig gezuckerten Getränken oder Wasser gefüllt? Untersuchungen haben gezeigt, dass alleine mit dieser Maßnahme das durchschnittliche Gewicht der Schüler gesenkt werden kann. Es gibt Konzepte, die darauf zielen, Schulen dahin gehend zu zertifizieren. Es gibt klare Empfehlungen für die Ernährung in der Schule. Das alles kann man beeinflussen, nicht nur das Wissen, sondern auch das Verhalten der Kinder. Und wir haben die wissenschaftlich belegten Erfolgsmodelle, wie wir das in den schulisch-curricularen Alltag einbauen können.

Ein anderes Beispiel. Auf europäischer Ebene, aber jetzt auch in Österreich diskutieren wir schon seit einigen Jahren, wie wir es schaffen könnten, den Konsumenten zu einer günstigeren Entscheidung zu bringen, was das Ernährungsverhalten betrifft.

Was gäbe es hier für Maßnahmen?
Da gibt es die Nahrungsmittelkennzeichnung und verschiedene Konzepte, etwa den Nutriscore. Er soll auf einen Blick klar machen, ob ein Produkt im Vergleich zu einem gleichartigen Produkt ernährungstechnisch günstiger oder ungünstiger ist. Wir treffen Kaufentscheidungen in Millisekunden. Kaum jemand liest in Ruhe die Inhaltsliste und überlegt auf dieser Basis, ob er das Produkt kauft oder nicht. Wir können das Kaufverhalten und damit nachweislich das Ernährungsverhalten mit dieser verhaltenspräventiven Maßnahme beeinflussen. Gerade bezüglich des Nutriscores gibt es in Österreich bereits große Bemühungen, ihn endlich einzuführen. Zunächst auf freiwilliger Basis, optimal wäre verpflichtend. Oder durch die erfreulicherweise in Umsetzung begriffene Ein­schränkung von an Kinder gerichteter Werbung für ungesunde Lebensmittel in digitalen Medien. Dort steppt der Bär, dort lernen unsere Kinder – Gutes wie Schlechtes!

Wir haben es mit einer Gesellschaft zu tun, wo hochverarbeitete Produkte immer beliebter werden. Das ist deshalb ungünstig, weil sie typischerweise viel Salz, viel und das falsche Fett und viel Zucker beinhalten. Diese ultraprozessierten Nahrungsmittel spielen auch eine Rolle. Jetzt können wir sie nicht verbieten, sondern wir wollen Einfluss nehmen insofern, als es von Kunden unbemerkte Veränderungen in der Zusammensetzung gibt. Wir können Rahmenbedingungen schaffen, die es den Konsumenten ermöglichen, ernährungstechnisch günstigere Kaufentscheidungen zu treffen. Mit Zwang, dem erhobenen Zeigefinger und der Drohung mit einer abstrakten Krankheit erreichen wir gar nichts, oftmals sogar das Gegenteil.

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