Die Belagerung traf alle: Siversky bei Leningrad, 1941.
Geschichte

Der Erste, der nicht hungern musste

Unser Autor Vladimir Vertlib über seine Familiengeschichte: „Bei der Leningrader Blockade vor 80 Jahren starben Hunderttausende. Meine Mutter und mein Vater überlebten. Die Folgen des Krieges spüre ich bis heute.“

Mein Vater wollte mich Viktor nennen, meine Mutter bestand auf Vladimir. „Böse Zungen“ behaupteten daraufhin süffisant, sie habe mich nach Wladimir Iljitsch Lenin benannt. Eine solche Unterstellung konnte in der Zeit, als ich geboren wurde, den tristen Jahren der Stagnation und des Niedergangs, als in der Sowjetunion kaum mehr jemand an den Kommunismus glaubte, natürlich nicht ernst gemeint sein. Meine Mutter entgegnete meist gleichermaßen scherzhaft, sie habe mich nicht nach Lenin, sondern nach dem heiligen Kiewer Fürsten Wladimir I., der im 10. Jahrhundert das Christentum nach Russland gebracht hatte, benannt. In Wirklichkeit jedoch ist mein Name ihrer ersten großen Liebe, Wolodja (die Koseform von Wladimir), dem Burschen aus dem Nachbarhaus, geschuldet. Als die Kinder einander begegneten, war er sechs, meine Mutter noch keine vier Jahre alt. Bald danach, im Herbst und Winter 1941, standen beide kurz vor dem Hungertod. Und es war Wolodja, der meiner Mutter wahrscheinlich das Leben rettete.

Zweieinhalb Jahre lang, von 8. September 1941 bis 27. Jänner 1944, dauerte die sogenannte „Leningrader Blockade“, belagerte die deutsche Wehrmacht die Stadt Leningrad, das heutige St. Petersburg. Nachdem es der Heeresgruppe Nord nicht gelungen war, die Stadt im Sturm zu erobern, sollte sie systematisch ausgehungert werden. Dies, so die NS-Führung und ihre Militärstrategen, habe außerdem den Vorteil, dass Munition gespart werde. Der Führer habe an dieser Stelle ohnehin keine zivile Siedlung vorgesehen, hieß es. Die Ermordung oder Vertreibung sämtlicher Zivilisten wäre jedoch eine kostspielige Angelegenheit und eine starke seelische Belastung für die eigenen Truppen. Wenn die Zivilbevölkerung verhungere, erledige sich das Problem jedoch von selbst, meinten die deutschen Eroberer.

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