Die Ich-Pleite

Von hochsensiblen Sinnesorganen

Carolina Frank
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Manchen Menschen, es sollen zehn bis 20 Prozent der Bevölkerung sein, werden von Geräuschen gequält, die für anderen kaum zu hören sind. Das nennt man Misophonie.

Die Zivilisation könnte man auch — glauben manche Philosophen — als einen fortschreitenden Prozess der Höhersensibilisierung betrachten. Waren zum Beispiel die Bewohner einer mittelalterlichen Stadt noch ziemlich unempfindlich gegenüber lauten Geräuschen und üblen Gerüchen, besitzen heute viele Menschen hochsensible Sinnesorgane. Das ist einerseits etwas Gutes. So ein Mensch schreibt vielleicht ein Gedicht darüber, wie die Blätter fallen, „als welkten in den Himmeln ferne Gärten“. Im Unterschied zu einem, sagen wir, normalsensiblen Gärtner, der vielleicht nur das Welken der Erde naher Gärten sieht. Aber leider hat auch die Hochsensibilität ihre Nachteile. Manchen Menschen, es sollen zehn bis 20 Prozent der Bevölkerung sein, werden von Geräuschen gequält, die für anderen kaum zu hören sind. Das nennt man Misophonie.

In Holland gibt es ein eigenes Institut dafür. Viele Misophoniker hassen Atemgeräusche. ­Vielleicht nicht generell. Aber zum Beispiel das vom Kollegen am Nachbartisch. Es könnte auch der Vorgesetzte sein. Jedes Mal, wenn er die Luft einsaugt und Sekunden später wieder ausbläst, steigt ihnen die Gänsehaut auf. Wenn man bedenkt, dass der Kollege das ungefähr 7.000 Mal während eines Arbeitstages macht, kann man sich vorstellen, wie quälend das sein muss. Die meisten Betroffenen, sagen Studien, hassen Essensgeräusche. Anderen beim Kauen und Schlucken zuhören zu müssen, macht sie nervös. Mit dem Verzehr einer Packung Chips oder eines Apfels könnte der Kollege oder Vorgesetzte sie also in den Wahnsinn treiben. Und es gibt Menschen, die sogar welkendes Herbstlaub verrückt macht. Zumindest dann, wenn es von trommelfellstrapazierenden Laubbläsergeräten durch die Gärten gewirbelt wird.

("Die Presse Schaufenster" vom 26.11.2021)

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