Literatur

Der Schatten der Mutter

In Natascha Wodins Roman „Nastjas Tränen“ wird die Ich-Erzählerin mit ihrer Herkunft konfrontiert, als sie eine ukrainischstämmige Reinigungskraft engagiert.

Sollten Sie eine osteuropäische Putzfrau beschäftigen, ist es vermutlich gewinnbringend, Natascha Wodins Roman „Nastjas Tränen“ zu lesen; die Lektüre ist nicht sperrig und beansprucht genauso wenig Raum wie seine Titelheldin. Dostojewski mag um die Berliner Straßenecke linsen, an der diese Nastja entlanggeht, unterwegs zu ihrem nächsten Putzjob. „Erniedrigte und Beleidigte“, das war sein erster Roman nach seiner Rückkehr aus der sibirischen Verbannung; Wodins Blick auf Nastja fällt durch eine ähnliche Linse.

Es sind die Jahre nach dem Mauerfall: Nastja, eine mittelalte Ukrainerin, eigentlich Tiefbauingenieurin, ist aus einem erdrückenden Leben in den Westen aufgebrochen, wo die Ich-Erzählerin – die Vermutung, es handle sich um Wodin, liegt nahe – sie als Putzfrau engagiert. Zwei Welten treffen aufeinander: hier die als Tochter von „Displaced Persons“ in Deutschland aufgewachsene und akkulturierte Schriftstellerin, dort die Sowjetfrau, die alle Lebenswidrigkeiten bis ins Kleinste am eigenen Leib erfahren hat, von der Versorgungsmisere bis zum Überwachungsstaat. Es folgt eine Art Chronik der nächsten Jahre, in denen die Ich-Erzählerin Nastjas Versuche, rechtlich wie seelisch Platz in Deutschland zu finden, begleitet. Die verborgene Kolonie der entwurzelten Sowjetmenschen, eine für das deutsche Auge unsichtbare Solidargemeinschaft, bildet den Hintergrund; es ist ein leises Summen des Heimwehs und der Einsamkeit, das die Ich-Erzählerin an ihre eigene Mutter erinnert.

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