Culture Clash

Freipflichtig?

Dass Impfgegner sich dem Staat immer mehr verweigern, hat paradoxerweise auch damit zu tun, dass ihnen das Impfen nicht angeordnet, sondern aufgedrängt wird.

Eine Erfahrung der Pandemie scheint mir festhaltenswert: Wenn die Regierung ein Verhalten als unerlässlich für das Gemeinwohl ansieht, dann darf sie dieses Verhalten nicht bloß empfehlen. Sie muss es vorschreiben. Und sie darf nicht im Nachhinein jene zu verstockten Übeltätern erklären, die im Vertrauen darauf, dass „freiwillig“ nicht nur als netterer Ausdruck für „Pflicht“ gemeint war, die unerwünschte Entscheidung getroffen haben. Wenn Steuerzahlen freiwillig wäre, dürfte die Regierung beim bitteren Staatsbankrott auch nicht erklären: „Schuld sind die, die nicht gespendet haben!“ Und 50 km/h im Ortsgebiet ist ja auch nicht bloß ein Vorschlag, dessen Einhaltung dem Volkszorn übertragen wird.

Wenn eine Regierung ein Verhalten für absolut notwendig erklärt, es aber nicht anordnet, riskiert sie, dass dann die von ihr alarmierte Bevölkerung diese Aufgabe übernimmt. Das mag der Regierung als das gelindere Mittel erscheinen, ist es aber nicht: Statt behördlicher Maßnahmen, die auf dem Rechtsweg bekämpfbar sind, gibt es dann den rekurslosen Druck der Masse, der die Nonkonformisten bedrängt, lächerlich macht, bloßstellt, isoliert und abkanzelt. Das führt statt zur erwünschten Verhaltensänderung nur zu Gegendruck und zur Verengung der Narrative und Sichtweisen – auf beiden Seiten, auch bei den Pflichtbewussten. Dann erscheinen bald alle Impfgegner als Verschwörungsidioten, obwohl doch die meisten von ihnen, laut Umfragen, einfach nur Angst vor Impfschäden haben. Der differenzierende Blick geht auf allen Seiten verloren. Und die Verweigerer erleben, von einer großen Mehrheit unter anfeuernden Rufen der Machthaber ins Eck getrieben zu werden. Das ist zwar noch lang kein Totalitarismus, aber es darf nicht verwundern, dass sie das so empfinden und der Gesellschaft entfremdet werden.

Natürlich ist eine gesetzliche Impfpflicht ein schwerwiegender Eingriff. Aber es ist allemal besser, die Regierung bekommt den Zorn der Betroffenen ab. Sonst werden diejenigen, die sich vor der Impfung mehr fürchten als vor der Ansteckung, und diejenigen, bei denen es umgekehrt ist, zu Feinden. Feinde, die einander beim nächsten Wahltermin nicht loswerden können.

Ich bin geimpft. Aber mir tun alle Ungeimpften leid, die jetzt mit dem Rücken zur Wand stehen. Genauso wie mir alle Geimpften leidtun, die in einer ungeimpften Umgebung Ähnliches erfahren. Es ist eine Lektion für alle Regierungen: Wenn etwas unbedingt nötig ist, braucht es eine Vorschrift. Aber wenn nicht, ist der Wille des Einzelnen zu verteidigen. Mischformen funktionieren nicht.

Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

meinung@diepresse.com

www.diepresse.com/cultureclash

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.11.2021)

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