Marktbericht

Retail: Zwischen Routine, Frustration und Optimismus

Wiener Graben
Wiener Graben(c) APA/GEORG HOCHMUTH (GEORG HOCHMUTH)
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Wie ist die Lage in Einkaufsstraßen, Shopping- und Fachmarktzentren? Der aktuelle Retail-Marktbericht von Otto-Immobilien analysiert die „Achterbahnfahrt“ der Branche.

„Österreichs stationärer Einzelhandel hat Corona-bedingt heuer eine wahre Achterbahnfahrt hinter sich“, sagt Anthony Crow, Teamleiter Retail bei Otto-Immobilien. „Nach einem verhaltenen Start und einer guten Entwicklung in den darauffolgenden Monaten müssen die Unternehmen jetzt mit dem nunmehr vierten Lockdown neuerlich einschneidende Verluste hinnehmen."
Bis zu 140 Mio. Euro pro Tag sind es österreichweit nach Berechnungen der Linzer Johannes Kepler Universität, auch wegen des Großteils fehlenden Geschäftes vor Weihnachten und am 8. Dezember. Für viele Unternehmer „ein Wechselbad der Gefühle“, sagt Crow. Neben Frustration ortet er aber auch „eine gewisse Routine“, mit der die Händler bestmöglich und proaktiv auf die aktuellen Einschränkungen reagieren können.

Vor dem aktuellen Lockdown war Optimismus aufgekommen, die Situation hatte sich wieder verbessert, heißt es im seit heute vorliegenden neuen Retail-Marktbericht von Otto-Immobilien. „Auch wenn viele Unternehmen vor dem Hintergrund der neuen Entwicklungen ihr Filialnetz stabilisieren, strukturieren oder neu positionieren – die Nachfrage nach Geschäftsflächen ist wieder gestiegen, die Vermietungsleistung hat in den letzten 6 bis 8 Monaten wieder deutlich zugelegt. Trotz der aktuellen und erneut einschneidenden Gegebenheiten gehen wir davon aus, dass sich die Nachfrage nach Geschäftslokalen im neuen Jahr intensivieren und dynamisch entwickeln wird,“ sagt Crow.

Neuvermietungen zeigen Aufbruchsstimmung

In Wien etwa lassen Neuvermietungen wie Liebeskind, Polestar, Mooncity Vienna, Nespresso, Marc O‘Polo, Huawei oder Balenciaga, die heuer neue Geschäftsflächen in den Top-Lagen des Goldenen H (zwischen Hofburg, Kohlmarkt, Graben, Rotenturmstraße und Kärntner Straße) angemietet haben, eine gewisse Aufbruchsstimmung erkennen. „Grundsätzlich war noch nie so viel Bewegung in unseren Einkaufszonen zu beobachten wie zuletzt“, sagt Crow. Dabei setze sich die Konzentration auf die Top-Lagen kontinuierlich fort, während in B- und C-Lagen vermehrt Geschäftsschließungen und entsprechende Leerstände zu erkennen seien, für die bislang nur selten namhafte Mieter gefunden werden.

„Die Standortpolitik von Einzelhändlern wird umfassender und tiefgreifender analysiert. Retail-Erlebniswelten, entsprechende Brand Awereness in Top-Lagen, die eine hohe Attraktivität und neuen Anreiz für Konsumenten ausüben, stehen mehr denn je im Trend und führen dazu, dass auch morgen am Markt verstärkt mit neuen, bzw. neu durchdachten Konzepten zu rechnen ist. Zudem werden Relocations verstärkt forciert, um eine Portfoliooptimierung zu erzielen,“ berichtet Patrick Homm, Abteilungsleiter Immobilienvermarktung Gewerbe bei Otto-Immobilien.

„Wir sind davon überzeugt, dass sich der Markt - auch nach den Rückschlägen dieses aktuellen Lockdowns - kontinuierlich erholen wird und sich unsere Einkaufsstraßen durch neue, attraktive Konzepte am Markt morgen noch bunter und individueller präsentieren können“, so die Retail-Experten. Im Zuge der Vermarktungen sei weiters ein Trend zur Verkleinerung von Shop-Flächen und zu immer individuelleren, an den Standort angepasste Lösungen zu beobachten.  Bei Geschäftsflächen mit mehreren Stockwerken werden Mietflächen in den oberen Geschoßen vermehrt umgenutzt und anderweitig bespielt – alternative Nutzungen sind Büros, medizinische Versorgung, Serviced Apartments oder Self Storages.

Allerdings sind nicht alle Branchen des Handels und Standortzonen von den Auswirkungen der Corona-Pandemie in gleicher Art und Weise beeinträchtigt, heißt es im Marktbericht weiter. So konnten neben dem Onlinehandel etwa der versorgungsrelevante Lebensmitteleinzelhandel mit einem Umsatzplus von rund 10 Prozent positive Zahlen schreiben. Genauso wie Baumärkte, die Bereiche Sport & Outdoor, Discounter und weitere Konzepte mit Fokus auf Produkte des täglichen Bedarfs.

Konstante Mieten in A-Lagen

In A-Lagen sind die Nominalmieten nach Erhebungen von OTTO Immobilien weitestgehend konstant geblieben. In Nebenlagen stehen sie allerdings unter Druck, vor allem in Hinblick auf Geschäftsflächen mit vertikaler Geschossstruktur. Ebenfalls bemerkenswert sei, dass Mietvertragslaufzeiten deutlich kürzer ausfallen und kaum ein Mietvertrag gegenwärtig ohne einer Corona-Klausel abgeschlossen wird. „Dazu kommen verstärkt Incentives wie mietfreie Zeiten, Umsatzmieten oder Baukostenzuschüsse zum Tragen, die in ein rechtliches Gesamtpaket gegossen werden und mittlerweile am Markt Usus sind“, berichtet Crow. In Hinblick auf die Vertragsgestaltung sei allerdings zu beobachten, dass Mietinteressenten und Vermieter inzwischen näher zusammenrücken und verstärkt vereinigt agieren, um einen für beide Seiten passenden Abschluss zu forcieren, mit dem Ziel, eine solide Basis für eine Neuanmietung oder auch eine Vertragsverlängerung partnerschaftlich zu erarbeiten.

Distanz- und Einzelhandel verschmelzen – Wertewandel bei Konsumenten

Es ist davon auszugehen, dass Distanz- und stationärer Einzelhandel immer mehr miteinander verschmelzen – eine durchdachte Kombination beider Vertriebslinien wird zukünftig nicht mehr wegzudenken sein, heißt es im Marktbericht weiter. Dies zeigt sich auch an Anforderungen bzw. am Kaufverhalten der Konsumenten, die während der Corona-Pandemie intensiv umgesetzten Services wie bspw. Last Mile Delivery oder Click & Collect vermehrt nachfragen. Darüber hinaus gehen Trendexperten davon aus, dass durch die Krise ein Wertewandel der Konsumenten eingesetzt hat, der zukünftig zu veränderten Bedürfnissen und einem angepassten Kaufverhalten führen wird und sich der Handel daran anzupassen hat.
Gravierendere Veränderungen sind in den am stärksten von den Lockdowns betroffenen Branchen wie Fashion, Schuh & Leder, Schmuck und Parfümerie abzusehen. „Es ist davon auszugehen, dass zukünftig in diesen Bereichen eine Neudurchmischung erlebbar sein wird, sprich ein Mix aus neuen Konzepten, angepassten Flächenkonzeptionen, Filialnetzoptimierungen, aber auch Ladenschließungen“, erläutert Homm.

Erkenntnisse aus der Pandemie

Produktinszenierungen zur Untermalung des haptischen Erlebnisses werden zunehmen, um neue Anreize zum Einkaufen zu schaffen. Der Markt von morgen wird somit von Nutzungen abseits der klassischen Vertriebslinien im stationären Einzelhandel geprägt sein. Nämlich durch Alternativnutzungen, Direktvertrieb von Produzenten und Herstellern, E-Mobilität-Konzepten, etc. die Geschäftslokale anmieten und Einkaufsstraßen bereichern können.

Online Pure-Player dürften nun zukünftig außerdem häufiger stationäre Dependancen bespielen. Diese Entwicklung spricht für eine Stärkung von Flagship-Stores bzw. Monobrand-Stores und entsprechend für Standortentscheidungen, welche weniger von Mietkosten als vielmehr von der Qualität oder dem Marketingeffekt eines Standortes getroffen werden.
Neben Pandemieklauseln wollen sich Unternehmen weniger langfristig binden, was dazu führt, dass Mietvertragslaufzeiten kürzer gehalten werden oder Ausstiegsszenarien definiert werden. Zudem fordern Retailer eine Anpassung der Mietniveaus durch die Erkenntnisse der Corona-Pandemie, die u.a. mit Staffelmietkomponenten, mietfreien Zeiten, sowie umsatzabhängigen Mieten einhergehen.

Ein kurzer Blick in die Einkaufsstraßen

Kärntner Straße: Die Nachfrage nach Geschäftsflächen auf der Kärntner Straße - der am meisten frequentierten konsumträchtigsten und vielfältigsten Zone im Goldenen H - ist seit Ende des ersten Quartals 2021 deutlich höher als in den Monaten zuvor. Gemeinsam mit Graben und Kohlmarkt ist sie bei neuen Marktteilnehmern weiterhin sehr gefragt und besticht durch einen ausgeprägten Branchen- und Mietermix. Darüber hinaus erfährt der Standort aktuell nach und nach eine zusätzliche Belebung durch innovative Alternativkonzepte abseits des klassischen Textilhandels bzw. eine Diversifizierung des Handelsbesatzes durch Neuansiedelungen von innovativen und dynamischen Mietinteressenten wie beispielsweise Huawei, Mooncity Vienna oder IQOS. Die Einkaufsmeile bietet daher beste Voraussetzungen für den stationären Einzelhandel, obgleich sich die überdurchschnittlich hohe Passentenfrequenz mittlerweile wieder dem Normalniveau annähert. Dies zeigt sich auch in den stabilen Mietpreisen, die durch die Coronakrise bis dato keinen Einbruch erlitten haben, sowie den derzeit kaum verfügbaren Geschäftsflächen.

Graben: Der Mieterbesatz sowie die Nominalmieten für Einzelhandelsflächen entlang des Wiener Grabens sind auch in diesem Geschäftsjahr weitgehend gleichgeblieben. Positiv hervorzuheben ist das große Angebot an Cafés und Restaurants am Graben – die einzigartige Mischung aus Gastronomie- und Shoppingerlebnis stellt einen USP für die Kundschaft der Wiener Innenstadt dar. Mit Neuanmietungen durch Liebeskind, Alpha Tauri oder Glashütte Original gab es signifikante Bewegungen im Mieterbesatz.

Kohlmarkt: Zwar sind die Frequenzen entlang Österreichs luxuriöser Einkaufsmeile seit Beginn der Coronakrise stark eingebrochen, es ist jedoch eine kontinuierliche Verbesserung beobachtbar. Es ist davon auszugehen, dass sich die Frequenzzahlen ab Mitte 2022 wieder auf Normalniveau bewegen und damit erneut mit jenen in renommierten Großstädten Europas konkurrieren werden können. Die derzeit am meisten nachgefragte Lage ist die vom Graben bzw. Goldenen Quartier einsehbare Sektion. Hier werden die höchsten Passantenfrequenzen gemessen und durch die Umgestaltung des Luxus-Lebensmittelhändlers Julius Meinl am Graben sehen viele Luxushändler Synergien und Anreize einer Anmietung in direkter Nachbarschaft.

Mariahilfer Straße: Da die Mariahilfer Straße nicht zwingend abhängig vom Tourismus ist und sich Großteils einer lokalen bzw. nationalen Kundschaft bedient, hat die Wiedereröffnung des Retailsektors entlang der Einkaufsmeile seit dem Frühjahr gut funktioniert. Die Passantenfrequenzen haben sich seither deutlich erholt und auch die Leerstandssituation hat sich durch den allgemeinen Aufschwung im stationären Einzelhandel und den damit einhergehenden Mietvertragsabschlüssen kontinuierlich verbessert. Nichtsdestotrotz verfügt die Kernzone der Mariahilfer Straße weiterhin derzeit über rund 8 bis 10 Prozent an verfügbaren Retaileinheiten – diese Optionen betreffen vor allem Flächen mit vertikaler Geschoßstruktur und Mietpreisen meist deutlich über Marktniveau. Aufgrund dieser teils ambitionierten Mietniveaus sowie der manchmal beeinträchtigenden Entwicklungen aufgrund des Ausbaus des Verkehrsknotenpunktes im Bereich der Neubaugasse, sind insbesondere Großflächen deutlich länger in der Vermarktung bis ein passender Nutzer gefunden werden kann.

Landstraßer Hauptstraße: Die Landstraßer Hauptstraße ist nach der Mariahilfer Straße und der Innenstadt die drittgrößte Einkaufsstraße Wiens und stellt österreichweit gesehen das siebtgrößte Einzelhandelsensemble dar. Aufgrund der hohen Kaufkraft und Affinität zur Nachhaltigkeit der Bewohner im Einzugsgebiet zieht die Straße vorwiegend regionale Besucher aus einem weitreichenden Einzugsbereich an, die als maßgebliche Potenzialspender, vor allem für die vielen traditionellen Einzelhändler, gelten. In den vergangenen Monaten gab es kaum signifikante Änderungen im Mieterbesatz, die Nachfrage nach Geschäftslokalen ist allerdings weiterhin sehr hoch.

Favoritenstraße: Die Einkaufsstraße in ihrer Kernzone gilt zwar als die viertgrößte Einkaufsstraße Wiens und erfreut sich an einem bunten Branchen- und Mietermix, die hohe Leerstandsrate von ca. 18 Prozent hat sich jedoch bis zuletzt nicht verbessert. Der Wandel im Handel, der seit Jahren im stationären Bereich und besonders im Textil- und Schuhhandel zu beobachten ist und durch die Corona-Pandemie noch einmal beschleunigt wurde, ist hier stark erkennbar. Unter anderem bedingt durch die weiterhin verhältnismäßig hohen Mietvorstellungen der Vermieter sowie der Konzentration bekannter Filialisten auf A-Lagen, kommt es nach und nach vermehrt zu Geschäftsschließungen entlang der Favoritenstraße. Kontinuierlich prägen Diskonter, Fast Food-Anbieter und Pop-Up-Konzepte den Straßenzug. Die Voraussetzungen für eine Verbesserung werden nur durch ein professionelles Standortmanagement möglich sein.

Ausblick

In den nächsten Jahren werden, so die ExpertInnen von Otto Immobilien, gerade auch vor dem Hintergrund der aktuellen Situation weitere Akzente notwendig sein, um Einkaufsstraßen und innerstädtische Lagen, die bisher vom Einzelhandel dominiert wurden, stärker und attraktiver zu machen. Denn auch ohne weitere Insolvenzen werden sich die Filialnetze der Retailer, insbesondere auf High Streets und in Shopping-Centern, ausdünnen. Die Nachfrage nach stationären Dependancen wird vor allem bei Filialisten in B- und C-Lagen sinken, im Gegenzug allerdings werden die frequenzstarken Lagen und gut etablierten Nahversorgungszonen weiterhin nachgefragt bleiben.

Den gesamten Retail-Marktbericht mit detaillierten Analysen zu allen Wiener Einkaufsstraßen, Shopping- und Fachmarktzentren in Wien/Umgebung inkl. der aktuellen Mieten, Branchenmix und Passantenfrequenz finden Sie unter www.otto.at/Marktberichte

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