Glaubensfrage

Im Auge des politischen Wirbelwinds: Plädoyer für die Langsamkeit

Bundeskanzler und neuer ÖVP-Chef, Karl Nehammer
Bundeskanzler und neuer ÖVP-Chef, Karl Nehammer(c) imago images/SEPA.Media (Martin Juen via www.imago-images.de)
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Ein Wirbelwind fegt durch die Politik, durch die ÖVP insbesondere. Ist Karl Nehammer der authentischere christliche Politiker? Und was könnte er sich von der viel gescholtenen Kirche abschauen?

Manche werden überrascht sein. Das ist ein Plädoyer dafür, die Bedeutung der Bedachtsamkeit nicht gering zu achten. Ja, das ist auch ein Plädoyer für Langsamkeit. Ein paar Autofahrer gibt es sicher noch, die die Formel kennen: für eine den Umständen angepasste Geschwindigkeit.

Gerade Medien sind getrieben, Neues aufzustöbern oder diesem hinterherzuhetzen, kreieren immer neue Wirklichkeiten. In Österreich werden wir Zeugen der Selbstdemontage einer Parteikonstruktion, die bei den Wählern hochattraktiv war. Chat-Verläufe, Ermittlungen, Reihen-Rücktritte: Ein winterlicher Wirbelwind jagt durch die von Pandemie schwer gezeichnete Landschaft. Die Grundfesten einer Partei sind erschüttert, der derzeit stärksten, der Regierungspartei mit Dauerabo, der türkis-schwarzen oder schwarz-türkisen oder schwarzen (wer weiß das schon so genau) ÖVP.

Rasch musste es nach dem völligen Rückzug von Sebastian Kurz gehen. Neue Köpfe hier wie dort tauchten auf, über Nacht. Vielleicht zu rasch? Wurde ausreichend Zeit für das Headhunting gegeben? Gab es auch Lust der sogenannten Granden, die sich endlich wieder auch im Bund bedeutend fühlen dürfen, Ausrichtung, Themen, Strategie zu hinterfragen? Kaum. Zwischen Husch-Pfusch und Dauerkrampf ist bei politischen Entscheidungen der Grat sehr schmal.

Der nächste Bundeskanzler und neue ÖVP-Chef, Karl Nehammer, hat in seiner ersten Stellungnahme unmittelbar nach der Kür Solidarität als einen der wesentlichen Werte politischen Handelns genannt und explizit auf die christliche Soziallehre Bezug genommen. Wahrscheinlich muss man das so oder ähnlich als designierter Chef der ÖVP als Verneigung vor Geschichte und Erbe der Partei auch tun. Aber bei Karl Nehammer klingt das vielleicht einen Tick authentischer als noch bei Sebastian Kurz.
Während der Ex-Kanzler wie hinlänglich bekannt in der Jungen ÖVP politisiert wurde, entschied sich der junge Karl Nehammer weltanschaulich ähnlich, aber anders. Er trat in eine Verbindung des Katholischen Mittelschülerverbands (MKV) ein, bei dem er bis heute Mitglied ist. Eines der MKV-Prinzipien: Religio, worunter das Bekenntnis zum katholischen Glauben verstanden wird.

Vielleicht nimmt Karl Nehammer manchmal Maß an seiner Kirche. An deren provokanter Langsamkeit, die auch als Gründlichkeit, Achtsamkeit gelesen werden kann. Das ist ein Plädoyer gegen den Zwang zum raschen medialen Pseudo-Erfolg, für ein den Bedingungen angepasstes Tempo. Ein Plädoyer für Langeweile, Betulichkeit, Selbstzufriedenheit oder gar Stillstand ist es nicht.

dietmar.neuwirth@diepresse.com

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