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Die Mörderin und ihre Schwester

Sandra Bullock behält diesen Gesichtsausdruck fast den ganzen Film über bei.
Sandra Bullock behält diesen Gesichtsausdruck fast den ganzen Film über bei. NETFLIX
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Nora Fingscheidt hat uns in „Systemsprenger“ eine tief Verstörte nahegebracht. In „The Unforgivable“ versucht sie Ähnliches und scheitert – vor allem am Drehbuch.

Die besten Szenen spielen in einer Fischfabrik. Ruth Slater ist dort nach ihrer Entlassung untergekommen, 20 Jahre war sie nach dem Mord an einem Polizisten hinter Gittern, es ist ihre einzige Chance, wieder Fuß zu fassen. Hier ist es laut. Hier ist es kalt. Der Ton ist rau, die Arbeit hart.

Ruth hackt Lachsen die Köpfe ab, das ist ihre erste Aufgabe, später wird sie Filets zuschneiden, und als sie schon etwas routinierter ist, wird sie zur Endkontrolle eingesetzt: Sie entfernt die letzten Gräten. Zu Mittag sitzt sie in der Kantine und manchmal lächelt sie, denn einer der Kollegen ist freundlich. Abends steht sie in der Gemeinschaftsunterkunft mehr als die zehn erlaubten Minuten unter der Dusche – sie schrubbt und schrubbt und man meint den Gestank zu riechen, der geht nicht so schnell weg, das weiß jeder, der einmal einen Fisch ausgenommen hat.

Das hätte es also werden können: Ein sorgsam beobachtender Film über jemanden, der mit seiner Schuld ringt – wann hat man sie verbüßt? Wann lässt sie einen los? – und der nach Haft und Trauma ein neues Leben beginnt. Kleine Schritte. Ein Job. Ein ruhiger Platz zum Schlafen. Ein Freund, mit dem man reden kann. Und dann die Möglichkeit, wieder dort anzuknüpfen, wo man aufgehört hat: Ruth versucht, ihre kleine Schwester zu finden. Sie hat Briefe über Briefe an sie geschrieben, aber nie wieder etwas von ihr gehört.

Dramatischer Plot-Twist

Das wäre ein Film, den Nora Fingscheidt hätte machen können, sozusagen eine Fortsetzung ihrer Arbeit: In „Systemsprenger“ hat sie die Geschichte der 10-jährigen Benni erzählt, sie hat uns damit tief berührt und getroffen – und gelernt haben wir auch so einiges. Über Kinder, denen nicht zu helfen ist. Über ein System, das versagt, aber nicht immer. Über Gewalt und ihre Ursachen. Helena Zengel als Benni, die tobte und lachte und der die Kamera dabei ganz nahe kam, war ein Ereignis.

Aber Sandra Bullock spielt kein wütendes, einmal rabiates, dann übermütiges, dann enttäuschtes Kind, sondern eine traumatisierte Erwachsene – und irgendwann wird wohl auch der wohlwollendste Zuschauer der vielen Nahaufnahmen ihrer ewig gleich eingefroren-verstörten Gesichtszüge überdrüssig. Vor allem aber biegt das auf einer britischen Miniserie beruhende Drehbuch von Peter Craig, Hillary Seitz und Courtenay Miles rasch falsch ab: Ein Seitenstrang, der sich alsbald zum Hauptstrang entwickelt, erzählt von den Söhnen des damals ermordeten Polizisten. Sie haben Rache geschworen und es erst auf Ruth, dann auf Ruths Schwester abgesehen. Sie soll erleben, wie das ist, wenn ein geliebter Mensch getötet wird!

Leider ist dieser Teil der Geschichte zu krawallig ausgefallen – vor allem die Handlungen des jüngeren Bruders wollen nicht zu dem vorher entwickelten Charakter der Figur passen. Damit nicht genug, kommt es dann auch noch zu einem dramatischen und brutal verkitschten Plot-Twist, der alles über den Haufen wirft, was wir annehmen mussten – und leider auch den Rest an Glaubwürdigkeit, die diese Geschichte noch hatte.

Aber die ersten 20 Minuten sind gut.

„The Unforgivable“: bald im Kino. Ab Freitag auf Netflix. Basierend auf der britischen Miniserie „Unforgiven“.

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