Buch der Woche

Faribā Vafī: Was trotz Zensur erscheinen kann

Verfasst Geschichten wie Close-ups: Faribā Vafī.
Verfasst Geschichten wie Close-ups: Faribā Vafī.Jasper Kettner
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Unter dem Titel „An den Regen“ sind die besten Kurzgeschichten der iranischen Autorin Faribā Vafī auf Deutsch erschienen. Darin sind präzise gezeichnete Frauenfiguren anzutreffen, die allen gesellschaftlichen und politischen Zwängen zum Trotz ihre eigenen Wege gehen.

Papier ist teuer im Iran. Sein Verkauf wird vom Staat geregelt. Bücher sind teuer, und mit jeder politischen Verengung schließen weitere Verlage ihre Pforten. Vom Manuskript bis zum gedruckten Buch kann es oft ewig und viele geschwärzte Seiten dauern. Erfahrene Schriftsteller:innen wissen, wo die roten Linien der Zensur verlaufen, aber alle Launen und Linienverschiebungen vorauszuahnen ist unmöglich. Faribā Vafī ist eine dieser Stimmen, die die Schere im Kopf entlang der roten Linien meist geschickt anzusetzen weiß. Körperliche Liebe oder offene Kritik am Regime gehört herausgeschnitten – so weit, so einfach.

In den vergangenen Jahren hat die Zensurbehörde jedoch dazugelernt. So wie unter dem Shah-Regime Begriffe wie „rote Rose“ oder „Nacht“ auf einer roten Liste standen, die metaphorische Subversivität ahnden sollte, hat sich auch das nachfolgende Regime ein Stück weit an die oft kreative und abstrakte Bildsprache der Künstler:innen herangeschoben. Ein kleines Stück. Vieles scheint oft willkürlich.

Leise erzählen gegen das Patriarchat

Unsere mediale Sozialisierung im Westen andererseits ist, was den Iran anbelangt, von nichts so sehr geprägt wie von „Nicht ohne meine Tochter“, von verschleierten Frauenkörpern und vielleicht noch grimmigen Khomeini-Konterfeis. Deutschsprachige Leser:innen werden womöglich erstaunt sein, was alles sagbar ist in iranischer Literatur. Faribā Vafīs neu übersetzter Kurzgeschichtenband „An den Regen“ ist intensiv und überraschend in bester Short-Story-Tradition verfasst. Vafīs Geschichten sind meist Nahaufnahmen sozialer Beziehungsgeflechte, in denen Frauen den Erwartungen, die Familie und Gesellschaft an sie stellen, entgegentreten und ihren eigenen Weg gehen. Es sind dichte, anspielungsreiche Mikrokosmen, die einen politischen Kontext indirekt mitverhandeln. Vafīs präzise Sprache und ihr besonderer Blick für zwischenmenschliches Verstehen und Unverstehen schaffen vielschichtige Szenen, die trotz aller Ernsthaftigkeit oft auch komisch sein können.

Kurzgeschichten sind in der vor allem von Lyrik geformten persischen Sprache so etwas wie die Urform der Prosa, ihre Beliebtheit bei den Leser:innen mit dem Nischendasein im deutschsprachigen Raum kaum zu vergleichen. Faribā Vafī begann schon als Jugendliche Kurzgeschichten zu schreiben. Sie ist 1963 im aserbaidschanisch-iranischen Tabriz geboren, las früh Übersetzungen russischer Klassiker und die Erzählungen des lokalen Autors Samad Behrangi. Nach zwei gut besprochenen Short-Story-Bänden gelang ihr 2002 mit dem ersten Roman, „Kellervogel“, der Durchbruch (auf Deutsch 2012 beim Rotbuch Verlag erschienen). In diesem sprachlich reduzierten Werk schreibt Vafī die Geschichte einer namenlosen Erzählerin, die mit dem Wunsch ihres Mannes, das Land zu verlassen, mit ihrer eigenen Identität und ihrem Platz in der Familie hadert.

Schon hier ist angelegt, was die Autorin bis heute in ihren Erzählungen beschäftigt: das in der iranischen Literatur und Filmindustrie allgegenwärtige Motiv des Exils und dysfunktionale Beziehungen, gegen die ihre Protagonistinnen sich auflehnen. Ihre wie Close-ups erzählten Geschichten haben vor allem Frauenbeziehungen im Fokus. In „Kellervogel“ (im Original eigentlich „Mein Vogel“) zoomt sie ganz nah heran an die Verletzungen und Entfremdung zwischen der Hauptfigur und ihrer Mutter, zwischen ihr und ihren kleinen Kindern.

Vafī hat damit so etwas wie einen leisen „Regretting-Motherhood“-Moment in der iranischen Literatur geschaffen: eine Frauenfigur, die vielleicht lieber allein als für ihre Kinder verantwortlich wäre – verstörend! Die dicht erzählten Szenen erlauben fast immer einen induktiven Schluss von dem so Menschlichen und Persönlichen der Figuren auf patriarchale, repressive Machtstrukturen.

 

Die Unbeschwertheit in Ankara

Mit diesem leisen Erzählen ist Vafī neben der iranisch-armenischen Autorin Zoyā Pirzād die auflagenstärkste persischsprachige Schriftstellerin. Sie hat alle wichtigen Literaturpreise gewonnen, „Kellervogel“ ist mittlerweile in der 34. Auflage, und ihre sieben Romane und fünf Erzählbände verkaufen sich weiterhin gut.

„An den Regen“ ist ein Best-of aus drei Bänden. In der Titelgeschichte treffen Negar und Parinusch in einem Hotel in Ankara aufeinander. Die beiden Frauen freunden sich an, genießen gemeinsam die Unbeschwertheit der Ankaraer Cafés, Parinusch erzählt Geschichten, und Negar hört zu. Allein darin steckt mehr als eine bloße Zustandsbeschreibung: Vom Iran aus in der Türkei Urlaub zu machen ist günstiger als in den Arabischen Emiraten, und es gewährt Erholung von den ewigen Sittenkontrollen des öffentlichen Raums (auch wenn Erdoğan es den Nachbarn sicher gern gleichtun würde). Negar kommt aus dem Iran, Parinusch aus Schweden, wohin viele politisch Verfolgte nach der Revolution 1979 migriert sind. Eine von Parinuschs Geschichten handelt von ihrer Tochter, die als Jugendliche beginnt, ihr schmerzhafte Fragen zu stellen.

 

Nicht ohne eine Umarmung

„Ein Kind als Flüchtling hier herzubringen ist so, als würde man's nackt in den Schnee setzen.“ „Man muss es schön warmhalten können.“ Sprachlos war Parinusch in der Küche gestanden, hatte Zeit gebraucht, die Kälte von Schnee, Kühlschrank und Leben voneinander zu trennen und dann zueinander in Beziehung zu setzen. „Warum hast du mich hierhergebracht?“ Die letzte Frage der Tochter lautet schließlich: „Warum hast du mich im Gefängnis zur Welt gebracht, Mama?“

Gekonnt verdichtet Faribā Vafī in dieser Gesprächssituation generationsübergreifende Traumata der Islamischen Revolution und des Exils. Es mag verwundern, wie unverblümt die politische Hintergrundgeschichte hier gezeichnet ist. Die große menschliche Tragödie findet jedoch zwischen den Zeilen statt.

In der leichtmutigeren Geschichte „Ein Fingerhut voll oder ganz doll?“ (Vafīs langjährige Übersetzerin Jutta Himmelreich überträgt gerade Redewendungen immer souverän) will die Ich-Erzählerin entgegen der Gewohnheit ihre alte Mutter umarmen. Von einer Bekannten, die aus den USA zurückgekehrt ist, wird ihr eingeschärft, dass vor allem ältere Menschen Berührung brauchten und sie es bereuen würde, wenn ihre Mutter plötzlich unumarmt stürbe. In ironischem Tonfall berichtet die Erzählerin von ihren oft hilflos-absurden Versuchen, der Mutter nahezukommen. Dass die beiden sich durchaus nahestehen, nur auf ihre eigene Art, wird im Laufe der Erzählung deutlich: Sie scherzen miteinander, erledigen Hausarbeit Seite an Seite, die Tochter kümmert sich um den Alltag der Mutter.

Gerade dieser sprachlich mühelose Wechsel zwischen Abgründigem und Leichtem, zwischen menschlichen Aggregatzuständen und politischem Substrat der Geschichten – der macht Vafīs Prosa zu großer Literatur. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.12.2021)


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