Lou Reed und das rote Schaf in seiner Familie

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Der New Yorker präsentierte einen Film über seine 102-jährige Cousine und gab sich betont grantig. Ein würdiges Porträt einer würdigen alten Frau, wenn auch nicht das Meisterwerk, für das Lou Reed es hält.

Er ist erschütternd schön. Bewegend und berührend.“ Wer so über einen Film sprechen darf, den er selbst gedreht hat, muss über ein gedecktes Coolness-Konto verfügen. Rock-Bohemien Lou Reed tut das. Er ist cool, per definitionem, und zwar cool à la Greenwich Village. Was erstens eine gehörige Portion Grant bedeutet und zweitens eine ausgeprägte Abneigung gegen Leute, die ihm blöd kommen, sei es durch Verhunzung seiner Songs (wie durch die britische Sängerin Susan Boyle, die ihm sein „Perfect Day“ allzu bieder interpretiert), durch penetrantes Fotografieren oder ziellose Fragerei in brüchigem Englisch. Dieses besorgte bei der Viennale-Gala freiwillig der ansonst unbescholtene Edek Bartz: Auf seine verbalen Exkursionen durch „White Russia“ hin wurde Lou Reed immer einsilbiger.

Klein, hager, verhutzelt, gehüllt in eine ledrige, speckige Jeansjacke, äußerte er Banalitäten („The world is always better with music“) im Tonfall tiefer Weisheiten, nannte gütig seinen Lieblingsfilm („Citizen Kane“) und seinen Sport (Tai Chi) – und schwärmte von seiner Cousine Shirley Novick, über die er den Film gedreht hat, den er am Dienstag bei der Viennale präsentierte. Sie war bei den Aufnahmen 99 Jahre alt und stand ihrem Cousin an Schlagfertigkeit zumindest nicht nach. „Did you do the same thing every day?“, fragt er sie über ihre 40 Jahre als Näherin, sie antwortet mit einer Gegenfrage: „Don't you know about the fashion industry, Lou?“

Ob sie das schwarze Schaf in der Familie gewesen sei, fragt er sie an anderer Stelle. „No, the red sheep“, antwortet sie. Die Jüdin Shirley Novick, nach dem Ersten Weltkrieg aus Polen erst nach Kanada und dann, mit einer Mandoline im Gepäck, nach New York emigriert, wurde dort in der italienischen Textilgewerkschaft aktiv und als „Red Shirley“ bekannt. Man sieht sie, bald im Licht, bald im Schatten, bald in Farbe, bald in Schwarz-Weiß, wie sie trotz ihrer Gebrechlichkeit lebhaft über ihr Leben spricht, über die Fragen ihres Cousins („Were they killing the Jews during World War One?“) bisweilen inwendig zu schmunzeln scheint.

„Ein raues Leben?“ „Ja.“

Es ist ein würdiges Porträt einer würdigen alten Frau, wenn auch nicht das Meisterwerk, für das Lou Reed es hält. Immerhin, die winterlich-harschen Klänge seines „Metal Machine Trio“ verstärken das Gefühl am Rand der Sentimentalität, das die oft knappen Dialoge erzeugen: „A rough life?“ „Yeah.“

„Shirley verdient eine Statue“, sagte Lou Reed, „und wenn keine Statue, dann einen Film.“ Es sei sein erster und letzter Film, denn: „Es gibt nur eine Shirley.“ Natürlich hatte jeder im Publikum recht, der dachte: Das kann man über meine Cousine, Tante, Oma etc. auch sagen. So schlich durchs Gartenbaukino die triviale, aber humanistische Botschaft: Jedes Leben ist einzigartig. Man sollte es verfilmen. (Und Lou Reed sollte sich mit Susan Boyle treffen und versöhnen. Auch sie ist einzigartig und hat ein raues Leben. Aber dazu ist er wohl zu grantig.)

Zur Person

Lou Reed, geboren 1942 in Long Island, New York, gründete 1965 die legendäre Band Velvet Underground. Unter seinen zirka 25 Soloalben (ab 1972) sind Meisterwerke wie „Berlin“ (1973), „New York“ (1989) und das verstörend lärmende „Metal Machine Music“ (1975). Vor zwei Jahren drehte er seinen ersten Film, „Red Shirley“, der nun bei der Viennale vorgestellt wurde.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.11.2010)

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