Morgenglosse

Armer David Sassoli

European Parliament plenary session in Strasbourg
European Parliament plenary session in StrasbourgREUTERS
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Gerade von einer lebensgefährlichen Krankheit genesen, wird der italienische Präsident des Europaparlaments von seiner eigenen Fraktion eiskalt fallen gelassen.

Nichts ist in der Politik vergänglicher als das felsenfeste Bekenntnis von gestern. Davon kann David Sassoli, der scheidende Präsident des Europäischen Parlaments, ein traurig' Lied singen. Wie hieß es in der Sitzung der sozialdemokratischen Fraktion vor gerade einmal zwei Wochen noch? Es gebe „Einigkeit, dass wir keine Situation haben können, in der alle wichtigen EU-Institutionen von Konservativen oder Liberalen geführt werden“, ließ man die Brüsseler Korrespondenten, so auch jenen dieser Zeitung, damals kämpferisch wissen. Denn „die Veränderung des politischen Gleichgewichts in der EU seit 2019 (auch insbesondere durch die Wahlen in Deutschland) muss berücksichtigt werden.“ Und darum gebe es „einstimmige Unterstützung der Mitglieder aus der gesamten Fraktion für die Arbeit, die Sassoli als Präsident geleistet hat, und dafür, dass er in der zweiten Hälfte des Mandats weitermachen soll."

Dieses Versprechen, ihn bei der Abstimmung über das Präsidentenamt im Jänner zu unterstützen, ist seit Dienstagabend Makulatur. Dieselbe Fraktion beschloss, keinen eigenen Kandidaten gegen die maltesische Christdemokratin Roberta Metsola zu nominieren. Wie hieß es auf Anfrage der „Presse“ aus dem Kabinett Sassolis? „Der Präsident hat heute in der Fraktionssitzung seine Entscheidung verkündet, nicht für eine zweite Amtszeit zu kandidieren, um das Risiko zu vermeiden, die pro-europäischen Kräfte im Parlament zu spalten.“ Aber klar doch.

Metsola hat zudem bereits die Unterstützung der liberalen Renew-Europe-Fraktion in der Tasche. Wenn da jetzt noch ein paar Sozialdemokraten zähneknirschend dazukommend, wird sie im Jänner für zweieinhalb Jahre die bisher dritte Frau an der Spitze des Parlaments, nach den Französinnen Simone Veil (1979 bis 1982) und Nicole Fontaine (1999 bis 2002). Und auch der eine oder die andere Grüne dürfte für die 42-jährige Juristin mit ziemlich konservativen Ansichten über Frauenrechte und die Abtreibung stimmen, wenn man zwischen den Zeilen dieser Stellungnahme ihrer Fraktionsführerin, der deutschen Ska Keller liest: „Wir sind offen für die Debatte mit alle demokratischen und pro-europäischen Kandidatinnen und Kandidaten“, ließ sie am Freitag verlauten, und: „Viel zu lange standen Männer an der Spitze des Europäischen Parlaments. Es ist Zeit für eine Präsidentin.“

Dem kann man a priori wenig entgegenhalten. Aber ein bisschen Mitleid mit David Sassoli ist auch angebracht. Der war von Anfang an der falsche Mann am falschen Ort: beginnend mit seiner überraschenden Nominierung, die der eher unbekannte frühere Rai-Journalist und Hinterbänkler einzig dem Umstand zu verdanken hatte, dass die stimmenstarken rumänischen, italienischen und spanischen sozialdemokratischen Delegationen einen formbaren Präsidenten ohne allzugroße eigenen Ambitionen aus Südeuropa wollten (sehr zum Ärger der nördlichen Parteigenossen, die bei der Abstimmung im Juli 2019 mit Tricks am Rande der Statutenmäßigkeit ausgebremst wurden).

Kaum hatte er es sich dann eingerichtet in seinem Amt, das ohnehin wenig realpolitische Macht mit sich bringt, weil der Parlamentspräsident einen Flohzirkus an ziemlich divergenten Fraktionen nach außen zu vertreten hat, brach die Pandemie aus. Somit kam er von März 2020 bis Juni 2021 um das Vergnügen der Zelebration der monatlichen Plenarsitzungen in Straßburg, die für das Parlament den unschätzbaren Nutzen haben, dass Hunderte Journalisten tagelang im Straßburger Pressebunker sequestriert sind und nicht anders können, als über das parlamentarische Geschehen zu berichten, selbst wenn dort nichts wirklich Wichtiges passiert. Und kaum, dass man wieder mehr oder weniger normal tagen konnte, legte ihn im Oktober und November die Legionärskrankheit gut einen Monat außer Gefecht. Das wäre genau jene Zeit gewesen, in der er hinter den Kulissen die Allianz für seine Wiederwahl hätte schmieden können.

Kismet. Nun wird mit Metsola eine loyale Sekundantin von EVP-Fraktionsführer Manfred Weber bis zur Europawahl das Parlament führen. Auch der ist, wenn man an sein Scheitern im Bemühen ums Amt als Kommissions-, dann um jenes als Parlamentspräsident denkt, ein Ritter von der traurigen Gestalt. Man darf nun mit Spannung beobachten, welchen Preis sich die Sozialdemokraten für ihr Einknicken ausbedungen haben. So oder so tut diese Episode wenig, um das hartnäckige Vorurteil zu zerstreuen, dass - egal, von welchem Mitgliedsland man spricht - nicht unbedingt die erste Garde an Politikern ins Europaparlament abkommandiert wird.

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