EU-Gipfel

Der Grüne Pass der EU verliert an Wert

EU leaders gather in Brussels for a European Council summit
EU leaders gather in Brussels for a European Council summitREUTERS
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Mit vorbereiteten Sanktionen gegen Russland und der Tatsache, dass immer mehr Länder nicht mehr allein auf Impfungen setzen, sondern Einreisende kontrollieren wollen, steht der Zusammenhalt der EU erneut auf dem Prüfstand.

Inmitten des Aufflammens der neuesten Corona-Infektionswelle konnten sich die neuen Bundeskanzler Österreichs und Deutschlands am Donnerstag bei ihrem ersten Europäischen Rat in Brüssel um eine für sie gleichermaßen unangenehme Frage erleichtert fühlen: Die deutsche Bundesnetzagentur gab an diesem Tag bekannt, dass sie frühestens nach dem nächsten Sommer über die Zulassung der Gaspipeline Nord Stream 2 befinden werde, die russisches Gas unter Umgehung Polens und der Ukraine über die Ostsee nach Deutschland bringen soll. Die in der Schweiz ansässige Betreibergesellschaft müsse zuerst eine Tochter nach deutschem Recht gründen, dann sonst sei die Europäische Kommission am Zug, und die Fristen des Verfahrens begännen wieder neu zu laufen.

Nehammer bei Nord Stream 2 isoliert

Nord Stream 2 steht im Mittelpunkt der Erwägungen der Union, der Vereinigten Staaten und des Vereinigten Königreichs, wie Russland von einem etwaigen Angriff auf die Ukraine abgehalten werden kann. Dieses Thema wurde von den 27 Staats- und Regierungschefs beim Abendessen des ersten Tags des Europäischen Rates besprochen. Die Besorgnis über die russischen Truppenaufmärsche im Norden und Osten der Ukraine ist sehr hoch. „Wir stehen möglicherweise vor der gefährlichsten Situation seit 30 Jahren, und ich rede nicht nur von der Ukraine, sondern von der gesamten Ostflanke der Nato“, sagte der Präsident Litauens, Gitanas Nausėda, vor Beginn der Sitzung. Nehammer hatte sich gleich bei seiner ersten Teilnahme an einem EU-Gipfel selbst ins Eck gespielt, indem er mehrfach für Nord Stream 2 das Wort ergriff. Die Pipeline, welche vom russischen Staatskonzern Gazprom geführt wird und in welche die OMV enorm investiert hat, sei „gut für die strategische Versorgung von Europa mit Erdgas“, sagte der vormalige Innenminister am Donnerstag bei einer Pressekonferenz. Es sei „nicht klug, Nord Stream 2 zum Thema zu machen, wenn es um Sanktionen geht“.

Damit steht er jedoch allein da. Janez Janša, der slowenische Ministerpräsident aus derselben Parteienfamilie wie Nehammers ÖVP und ein enger Verbündeter des gewesenen Kanzlers Sebastian Kurz, befürwortete ausdrücklich, auch Sanktionen gegen Nord Stream 2 in Erwägung zu ziehen. Beschlüsse fielen bei diesem Gipfel erwartungsgemäß nicht, aber die 27 Chefs versicherten einander ihrer unverbrüchlichen Solidarität im Ringen darum, Moskau zurück an den Verhandlungstisch und weg von etwaigen Angriffsplänen zu bringen.

Neue Testpflichten auch für Geimpfte

Das eigentliche Hauptthema beim Gipfel war jedoch die neu aufflammende Covid-Pandemie. Die Regierungen aller Mitgliedstaaten sehen sich knapp vor Beginn des dritten Jahres der Seuche mit dem gravierenden Problem konfrontiert, dass die Basis ihrer Politik zur Bekämpfung von Covid-19 sich als unzureichend erweist. Denn die Hoffnung darauf, dass die Impfung gleichsam die Eintrittskarte in die neue, alte Normalität sei, läuft angesichts der Virulenz der Omikron-Mutante und des Umstandes fehl, dass auch dreifach Geimpfte daran zumindest leicht erkranken und vor allem andere Menschen anstecken können. „Seuchen sind nichts Neues“, sagte ein europäischer Botschafter vor Gipfelbeginn. „Seuchen in Zeiten enormer Massenmobilität sind hingegen sehr wohl neu. Während der Spanischen Grippe vor 100 Jahren gab es kein Ryanair. Unsere Staats- und Regierungschefs müssen ausreichend viel geistige Flexibilität aufbringen, gleichzeitig aber das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Maßnahmen aufrechterhalten.“

Das ist kein leichtes Unterfangen, wie die zusehends radikalen und gewaltbereiten Proteste von Corona-Leugnern und Gegnern der Gesundheitsmaßnahmen veranschaulichen. Als logische Folge der neuen Einsicht in die hohe Infektiosität der Omikron-Mutante und der zahlreichen Impfdurchbrüche verabschiedet sich ein Mitgliedstaat nach dem anderen von der bedingungslosen Akzeptanz des digitalen EU-Covid-Zertifikates (Grüner Pass). Dieses wurde vor dem Sommer geschaffen, um den unionsweiten Nachweis von Impfung oder Genesung zu ermöglichen und damit das reibungslose Reisen. Dem ist in Italien und Griechenland nicht mehr der Fall. Auch Geimpfte müssen fortan aktuelle PCR-Tests vorlegen, wenn sie einreisen wollen. Noch härter geht Frankreich gegen Reisende aus dem Vereinigten Königreich vor, wo Omikron seine Verbreitung fast täglich verdoppelt. Ab sofort dürfen nur mehr französische Staatsbürger beziehungsweise Personen mit Aufenthaltsrecht oder solche mit besonders dringlichen, eng formulierten Gründen über den Kanal reisen – und sie müssen sich testen lassen und eine Woche in Isolation, die sie erst nach erneutem Test vorzeitig beenden dürfen.

Gegen all diese Maßnahmen erhob keiner der anderen Staats- und Regierungschefs Protest. „Wenn Italien sich für diesen Weg entschlossen hat, ist das zulässig“, sagte Nehammer.

Gemeinsamer Medikamentenankauf

Die Bedeutung des Impfens stellte jedoch trotz dieser Rückschläge keiner der EU-Chefs infrage. Die Impfstoffe haben laut der EU-Seuchenbehörde ECDC gut einer halben Million Menschen in Europa das Leben gerettet. Viele, die nun geimpft leichte Covid-Symptome entwickelten, lägen ohne Immunisierung auf der Intensivstation. Trotzdem gewinnt die Frage der Beschaffung von Arzneimitteln gegen diese Krankheit an Bedeutung. Auf freiwilliger Basis bündelt die Europäische Kommission bereits den Ankauf von sechs Mitteln. Nehammer begrüßte das, auch SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner, die in Brüssel erstmals mit ihrem deutschen Parteifreund Scholz zusammentraf, unterstützte die gemeinsame Beschaffung. „Gerade bei neuen und oft sehr teuren Medikamenten ist es vorteilhaft, wenn die EU verhandelt und nicht 27 einzelne Mitgliedstaaten“, teilte Rendi-Wagner der „Presse“ mit. „Die Antwort auf die Pandemie sollte immer eine gemeinsame europäische sein, und Europa sollte hier mit einer Stimme sprechen.“ Eine verpflichtende, ausschließliche Beschaffung durch die Kommission (wobei jeder der Mitgliedstaaten seine eigenen Kosten trägt) wie bei den Impfstoffen ist derzeit aber nicht geplant.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.12.2021)

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