Musical

„Annette“ muss man fühlen – was nicht so leicht ist

RELEASE DATE: August 20, 2021 TITLE: Annette STUDIO: DIRECTOR: Leos Carax PLOT: A stand-up comedian and his opera singer
RELEASE DATE: August 20, 2021 TITLE: Annette STUDIO: DIRECTOR: Leos Carax PLOT: A stand-up comedian and his opera singer(c) imago images/ZUMA Press (Amazon Studios via www.imago-ima)
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Das impulsive Meta-Musical von Leos Carax – mit Adam Driver und Marion Cotillard – wirbelt viel durcheinander.

Die gebrochene Stimme des Regisseurs Leos Carax ertönt aus dem Dunkel der Leinwand, man hört den leichten französischen Akzent und Jahrzehnte gerauchter Zigaretten. Er warnt das Publikum. Bitte nicht sprechen, furzen oder atmen. Los geht's! Ein Chor, bestehend unter anderem aus dem Filmemacher, seiner Tochter, dem Kult-Popduo Sparks (das Idee und Musik lieferte) sowie den Hauptdarstellern Marion Cotillard und Adam Driver, zieht durch die nächtlichen Straßen Hollywoods und kündigt den Film an.

Fame, fetzige Popklänge und das kribbelnde Gefühl nahenden Irrsinns lassen das cineastische Herz sofort schneller schlagen. Schließlich gehört Carax zu den wenigen Maximalisten des internationalen Kunstkinos. Von ihm verspricht man sich ein Feuerwerk, mit ihm darf man (alb-)träumen. Dass er ein Musical vorlegt, überrascht keineswegs. All seine bisherigen Filme operieren wie Musicals: Bewegung, Rhythmus und Musik.

„Annette“ verfolgt nicht gerade klischeebefreit die fatale Beziehung zweier Ungleicher. Sie ist Ann, eine Opernsängerin, die alles für ihr Publikum gibt und am Ende ihrer Vorstellung für das seelische Wohlbefinden der Masse stirbt. Er dagegen ist der Stand-up-Comedian Henry McHenry, der seinen Zusehern den Hintern zeigt. Die Schöne und das toxische Biest. Narziss und Echo. Eine mordende Kreatur, verkörpert von Adam Driver, und die hinter der Welt verschwindende Stimme, die nur zum Teil auch wirklich Marion Cotillard gehört. Ihr gemeinsames Kind: eine singende Puppe. „Annette“ sucht Extravaganz, nicht immer geht das auf.

Melodien zersetzen sich. Hielte man sich mit Interpretationen zur symbolischen Überfrachtung des Films auf, würde man dem impulsiven Meta-Kino von Carax kaum gerecht. Fühlen muss man. Das fällt aber zunehmend schwer, weil der Film alles durcheinanderwirbelt und sich kein wirklicher, für die melodramatische Ernsthaftigkeit des Films eigentlich essenzieller emotionaler Kern entfalten kann. Dreiecksbeziehung, Mord, #MeToo, Stadionkonzerte des vom Vater ausgenutzten Kindes, illusionsbrechende Verweise auf die Künstlichkeit des Films und die äußerliche Verwandlung von Driver in den Filmemacher selbst. Es bleibt der Geschmack eines skizzenhaften, egozentrischen Films über Egozentrik.

Die Musik dagegen lässt aufhorchen. Die mantraartigen Wiederholungen einfacher Zeilen („We love each other so much“) verformt deren Bedeutung, die Melodien zersetzen sich so wie die Figuren. Musik als Seinszustand. Egal ob beim Cunnilingus, auf der Toilette oder im Kreißsaal, es wird immer gesungen, was durchaus lustige Effekte erzielt. Man spürt den Geist der Sparks in jedem Ton.

Carax und sein Tondesigner Erwan Kerzanet legen eine Art Essay unvollendeter Töne vor. Gleich zu Beginn hört man die erste jemals gemachte Tonaufnahme von Édouard-Léon Scott de Martinville, eine geisterhaft schallende Interpretation des Volksliedes „Au clair de la lune“. Weiter vernimmt man krachende Mikros, fiepende E-Gitarren, das Ächzen und Kratzen sich stimmender Instrumente und immer wieder gurgelndes, kreischendes Lachen. Diese unkontrollierten Geräusche und Nachklänge bilden einen löchrigen Teppich, auf dem der Film über einem psychologischen Abgrund fliegt.

Am Ende kann man auf einer Wand das Wort „Quiet“ lesen, und irgendwie ist man froh über die Stille.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.12.2021)

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