Präsidentenwahl

Duell der Extreme um die Macht in Chile

Wird Gabriel Boric, der Linke, oder José Antonio Kast, der Rechte, Präsident?
Wird Gabriel Boric, der Linke, oder José Antonio Kast, der Rechte, Präsident?Reuters/Gonzalez
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Bei der Präsidentenwahl am Sonntag treffen zwei Kandidaten aus total gegensätzlichen Lagern aufeinander: Der eine hat einen kommunistischen, der andere einen rechtspopulistischen Hintergrund. Gabriel Boric und José Antonio Kast im Portrait.

Extrem? Dieser seitengescheitelte Herr, der in seinen stets mit Krawatte getragenen Anzügen so verlässlich erscheint wie ein Versicherungsvertreter aus der TV-Werbung, der soll ein transandiner Trump sein? Ein chilenischer Bolsonaro? Gar das Latino-Pendant zu Rodrigo Duterte, dem Rambo aus Manila?

José Antonio Kast entschlüpft rhetorisch versiert all solchen Vergleichen. Er schaffe es, „anstößigste Sprüche mit seligem Lächeln und dem beruhigenden Tonfall eines wohlmeinenden (wenn auch etwas perversen) Onkels vorzutragen“, schrieb kürzlich Andrés Velasco, vormals Chiles Finanzminister. Kast (55), Jurist und seit Jahrzehnten Abgeordneter, hat zuletzt auch seine politischen Positionen dem biederen Auftreten angepasst. Nun will er etwa das Ministerium für Frauen und Geschlechtergerechtigkeit doch nicht schließen. Das Abtreibungsrecht, gegen Kasts Stimme dreimal vom Kongress bewilligt, soll nun doch bestehen bleiben – schließlich sei er „profund demokratisch eingestellt“, erklärte der Vater von neun Kindern.

Und auch die angekündigte radikale Steuersenkung für Unternehmen von 27 auf 17 Prozent flog aus dem Wahlprogramm. Wohl wissend, dass die Stimmen, die er braucht, in der Mitte der Gesellschaft liegen und nicht bei den reichen Eliten, deren Zuspruch er ohnehin sicher hat.



Der „gesunde Menschenverstand“. Der jüngste Sohn eines 1951 aus Bayern eingewanderten früheren Wehrmachtsoffiziers beschreibt sich gern als „Politiker mit gesundem Menschenverstand“. Heute Sonntag wird sich zeigen, ob die Chilenen ihm das abnehmen. In die Stichwahl um die Präsidentschaft zieht Kast mit einem Vor- und einem Nachteil: Er hat die erste Runde im November mit rund 28 Prozent der Stimmen gewonnen. Aber seither führen ihn sämtliche Demoskopen als Verlierer.

Doch ganz Chile weiß: Diese Umfragen sind trügerisch. Tatsächlich hängt über dem Land eine 4200 Kilometer lange Wolke aus Ungewissheit: Wie viele Wähler wollen ihre Stimme überhaupt einem Ultra – von rechts oder links – geben? Mehr als in Runde eins, als sich nur 53 Prozent der Stimmbürger beteiligten? Und welche werden nicht für den einen, sondern schlicht gegen den anderen stimmen?

Ungewissheit, das zeigte spätestens die Wahl Donald Trumps 2016, ist ein nährstoffreicher Boden für Konservative. Und Unwägbarkeit ist ein Zustand, in dem viele Chilenen, anders als ihre chronisch chaosgeprüften argentinischen Nachbarn, leicht nervös werden.

Pinochet gilt vielen weiter viel. Die Geschichtsbücher des Landes verzeichnen mehrere radikale Brüche nach turbulenten Epochen. Der letzte solche Eintrag war der Militärputsch vom 11. September 1973 gegen den linken Präsidenten Salvador Allende und dessen desaströse Wirtschaftspolitik. Die Machtergreifung des Generals Augusto Pinochet kam vielen Chilenen damals gerade recht. Und immer noch zollen ihm viele – Gewalt, Folter und ultraliberaler Wirtschafts- und Sozialpolitik zum Trotz – bis heute großen Respekt.

Einer seiner erklärten Jünger heißt José Antonio Kast, dessen ältester Bruder einst Minister und Zentralbankchef unter Pinochet war. Ordnung, Sicherheit und ein Beibehalten der Pinochet-Verfassung verspricht Kast dem zuletzt ungeordneten, verunsicherten Land. Das 2019 einen Volksaufstand erlebte, 2020 die Pandemie und nun eine Welle aus Armut und (Drogen-)Kriminalität. All das angereichert durch ständig neue Migranten aus Venezuela und Haiti, dazu der gewaltsame Aufstand in Araukanien, wo die meisten Nachfahren der Mapuche-Urbevölkerung leben.

Ein großer Graben an der Nordgrenze. Für José Antonio Kast sind die militanten Mapuche schlicht Terroristen, die Armutsflüchtlinge illegale Einwanderer. Den einen will er mit Waffen entgegentreten, den anderen mit einem gigantischen Graben längs der Nordgrenze. Dort und in Araukanien, wo sich der Mapuche-Aufstand vor allem abspielt, holte Kast in Runde eins die meisten Stimmen. Sicher ist sicher für Kast. ⫻

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Wenn Gabriel Boric dieser Tage in den Spiegel blickt, kann er das betrachten, was einen wie ihn vor Kurzem noch voller Abscheu auf die Straßen gebracht hätte: Einen linken Politiker, der sein 230-Seiten-Wahlprogramm voller revolutionärer Vorschläge auf 18 schmale Seiten zusammengestrichen hat. Der vor wenigen Monaten noch versprochen hatte, „den Neoliberalismus, der in Chile begonnen wurde, auch in Chile zu begraben“. Und der heute gelobt, das vom Parlament genehmigte Budget des nächsten Jahres nicht anzutasten. Der erst 2023 mit dem Umbau eines Staatswesens beginnen will, dessen ungerechte Wohlstandsverteilung er 2019 sofort beenden wollte. Der nun verspricht, die Steuerbelastung langsamer zu steigern als vorgesehen. Und der gelobt, die Staatsschulden nicht zu erhöhen.

So reift man eben. Im Spiegel könnte Gabriel Boric das erkennen, was man landläufig politischen Reifeprozess bezeichnet. Eine Wandlung vom Revolutionär zum Sozialdemokraten. Als solcher hat er sich in der letzten TV-Debatte vor der Stichwahl am Sonntag tatsächlich geoutet. Wie seine wichtigsten Koalitionspartner das aufgenommen haben, ist nicht bekannt. Chiles Kommunisten plaudern nichts aus.

Gabriel Boric ist 35. So jung und so links wie kein Präsidentschaftskandidat vor ihm. Er vertritt ein Bündnis mit dem selbst für lateinamerikanische Verhältnisse exotischen Titel Apruebo Dignidad – „Ich befürworte die Würde“. Hinter dem Slogan stehen Borics „breite Front“ aus ehemaligen Studentengruppen und anderen linken Basisorganisationen. Und eben die KP. Zuerst schien Daniel Jadue, kommunistischer Bürgermeister im Stadtteil Recoleta der Hauptstadt Santiago, die besseren Chancen zu haben, die Würde-Bewegung anzuführen. Aber in einer Vorwahl siegte Ex-Studentenführer Boric mit mehr als 60 Prozent der Stimmen.

Nun, in der Stichwahl um die Präsidentschaft, ist Boric der Gejagte. Manche Umfrageinstitute ermittelten für ihn gar 20 Prozentpunkte Vorsprung gegenüber dem rechten Kandidaten José Antonio Kast. Doch der Nachfahre kroatischer Auswandernder aus dem kalten tiefen Süden Chiles weiß nur zu gut, dass er eine sehr schwache rechte Flanke hat. Denn das Thema innere Sicherheit entdeckte sein Bündnis erst, nachdem Kast im November im ersten Wahlgang gewann, mit rund 28 Prozent der Stimmen vor Boric (rund 26 Prozent) und fünf weiteren Kandidaten. Die Begrenzung illegaler Einwanderung aber ist für eine Koalition aus Menschenrechtlern und Basisgruppen ein No-No.

Weltverbesserischer Überschwang. Zudem: In all ihrem weltverbesserischen Überschwang bei und nach dem Aufstand von 2019 hatte die Linke nicht realisiert, dass die meisten Chilenen gar nicht das Ende des Kapitalismus herbeisehnen, sondern dessen wirklichen Anfang. Denn jenes ultraliberale System, das Chile dreißig Jahre lang hatte wachsen lassen, stärkte Mono- und Oligopole, aber keineswegs den freien Wettbewerb. Und es verteilte den generierten Wohlstand fast ausschließlich zugunsten einer kleinen und allmächtigen Elite.

Nun erwarten viele Bürger, dass eine neue Regierung den chilenischen Kuchen anders aufteilt. Dass der Staat die Bereiche Gesundheit und Bildung übernimmt und für alle zugänglich hält. Dass die Pensionen steigen. Und es fairen Wettbewerb gibt.

Aber braucht es dafür einen radikalen Systemwechsel? „Das wahre Chile verlangt Veränderungen“, schrieb vorige Woche der Schriftsteller Cristián Warnken. „Aber das geordnet und in Frieden.“ Das Land wolle „Reformen, aber keine Revolution“.

Boric scheint das eingesehen zu haben, auch in Gesprächen mit aktuellen und einstigen Führern der lang regierenden Mitte-Links-Koalition. Die Ex-Präsidenten Michelle Bachelet und Ricardo Lagos haben Boric ihr Vertrauen ausgesprochen, auch die aktuelle Führerin der Christdemokraten, Yasna Provoste. Aber er hat wohl auch deutliche Mahnungen bekommen, die wilden Pferde in seiner Koalition zu zügeln.

Zu den Personen

Gabriel Boric Font (*1986 in Punta Arenas an Chiles Südspitze) ist seit 2014 im Parlament, erst als Unabhängiger, dann für eine Koalition linker Gruppen. Er studierte Jus und war Studentenführer. Zur Präsidentenwahl tritt er fürs linke Bündnis Apruebo Dignidad an. Seine Vorfahren aus Dalmatien waren in den 1880ern unter den ersten Migranten aus Kroatien (letztlich Österreich-Ungarn), die in den Raum der Magellanstraße und Feuerlands zogen.

José Antonio KastRist(*1966 in Santiago de Chile) ist Anwalt und war 2002–2018 für die konservative Unabhängige Demokratische Union im Parlament. 2019 gründete er die Republikanische Partei. Er gilt als Rechtspopulist, will harte Maßnahmen im Sicherheitsbereich und prononcierte Marktwirtschaft. Seine Eltern wanderten 1950/51 aus dem Allgäu ein; Michael Kast, der Vater, war Wehrmachtsoffizier und in der NSDAP. In Chile baute er eine Fleischwarenfirma auf.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.12.2021)

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