Jahresrückblick

Der Glaubenskrieg um Lobau-Tunnel und Stadtstraße

Protest Camp - Lobau Tunnel - Stadtstrasze Wien, Hausfeld, 15. 12. 2021 Protest Camp - Lobau Tunnel - Stadt Strasze S1 ***
Protest Camp - Lobau Tunnel - Stadtstrasze Wien, Hausfeld, 15. 12. 2021 Protest Camp - Lobau Tunnel - Stadt Strasze S1 ***via www.imago-images.de
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Die Diskussion über das größte Infrastrukturprojekt Österreichs und der Wiener Stadtstraße hat die Ausmaße eines Glaubenskriegs erreicht. Die Weihnachtszeit und der Jahreswechsel bieten Gelegenheit, wieder zur Ruhe zu kommen.

Es ist eine der frühesten Kindheitserinnerungen: Lärm. Abgase. Riesige Lkw, die schwer mit Holz beladen sich mitten durch die kleine Stadt in der Steiermark quälen.  Sie steuerten alle die große Papierfabrik an, die nicht weit entfernt lag.

Der Weg zum Kindergarten war in dem damals 12.000-Einwohner-Ort schwierig.  „Zu gefährlich um ein kleines Kind alleine in die Schule gehen zu lassen“, erklärte meine Mutter mir später. Sie war besorgt wie viele Eltern besorgt waren, wenn die Kinder alleine entlang der vielbefahrenen Straße zur Schule oder ins Stadtzentrum gingen.

Irgendwann wurde es leise.  Nach langen Verhandlungen, Planungen und Bauarbeiten wurde die lang geforderte Umfahrung eröffnet – selbst wenn es deutlichen Widerstand dagegen gab. Die Lebensqualität in der kleinen Stadt stieg aber schlagartig. Die Sicherheit (nicht nur) für Kinder ebenso. Es war plötzlich angenehm, dort zu leben.

Die emotionale Diskussion verwundert

Mit dieser Erfahrung sieht man die Diskussion um den Lobau-Tunnel, den die grüne Verkehrsministerin Leonore Gewessler nun zu Grabe getragen hat, differenzierter. Auch weil man beide Seiten kennt. Jedes Wochenende waren wir als Kinder bei meiner Großmutter, die einen abgelegenen Bauernhof führte. Das sorgt für ein tiefes Gefühl der Verbundenheit mit der Natur.

Als ehemals Zugereister verwundert deshalb die emotionale Diskussion um den Umfahrungsring, also um Lobau-Tunnel und Wiener Stadtraße. Es irritiert, dass hier ein Glaubenskrieg tobt und das Thema nur ideologisch gesehen wird,  und nicht sachlich anhand von Fakten, wie es sein sollte  – obwohl bekannt ist: Nichts im Leben ist nur schwarz oder weiß! Es gibt viele Grautöne. In manchen Bereichen haben Tunnel-Befürworter absolut Recht, in manchen Tunnel-Gegner. Deshalb hier der Versuch, die Diskussion differenzierter zu betrachten.

Die Seite der Befürworter

Niemand will einen Tunnel, weil er Tunnel als höchste Errungenschaft der menschlichen Zivilisation hält– vor allem wenn er tief unter einem Naturschutzgebiet verläuft.  Es geht um das letzte Stück des Umfahrungsrings von Wien. Und der soll nicht für „freie Fahrt für freie Bürger“ sorgen, sondern die Lebensqualität in Wien steigern, indem der Verkehr nicht mehr mitten durch die Stadt geleitet wird, was für viele Menschen unerträglich ist (siehe auch Anfang dieses Textes).

Und gerade die Wiener Grünen haben immer für mehr Lebensqualität und weniger Verkehr in Wien gekämpft. Dazu wurde das am besten geprüfte Infrastrukturprojekt Österreichs unter zwei grünen Verkehrsstadträtinnen so vorangetrieben,  dass es nun baureif ist. Dass die Grünen von der SPÖ unsanft aus der Stadtregierung geworfen wurden, und postwendend dreht eine grüne Ministerin das wichtigste Infrastrukturprojekt der SPÖ ab, das ist eine eigene Geschichte. Populismus der Tunnelgegner, die von einem „fossile Monsterprojekt“ bezeichnen ist verstörend und falsch. In nicht allzu ferner Zukunft werden E-Autos durch den Tunnel rollen.

Das eine Millionen-Metropole eine funktionierende Infrastruktur benötigt, weil nicht alles mit dem Lastenfahrrad erledigt werden kann, wird niemand bestreiten. Und hier sind wir bei einem Punkt: Jede Metropole, und jedes kleine Dorf (siehe Anfang des Textes) besitzt ein Umfahrung, um die Bevölkerung zu schützen. Nur Wien wird das verwehrt – von einer grünen Umweltministerin, die kürzlich selbst eine Umfahrung zum Schutz der Anrainer eröffnet hatte. Und der tägliche Stau auf der Tangente mit seinen Abgasen schadet dem Klima mehr als eine flüssige Umleitung des (Schwer)Verkehrs um Wien.

Die andere Seite

Als naturverbundener Mensch sorgt der Gedanke an einen Tunnel unter einem Naturschutzgebiet automatisch für ein ungutes Gefühl und die Frage: Ist das wirklich notwendig? Kann das Projekt wirklich so umgesetzt werden, dass das Naturschutzgebiet nicht beeinträchtigt wird? Und ist es in Zeiten des Klimaschutzes wirklich notwendig? Ist es nicht das falsche Signal an eine Generation, die für den Klimaschutz auf die Straße geht? Denn diese Generation wird mit den massiven Folgen des Klimawandels leben müssen. Das sind gewichtige Argumente, die nicht einfach vom Tisch gewischt werden können.

Sehen wir die Fakten an: International gibt es zahlreiche Beispiele für einen Tunnel unter einem Naturschutzgebiet. Es ist also möglich und auch technischer Standard. Eine absolute Garantie, dass nichts passiert, ist in diesem Bereich aber nie möglich – selbst wenn die Wahrscheinlichkeit minimal ist. Ein Faktum ist auch: Eine Stadt, die enorm schnell auf zwei Millionen Einwohner gewachsen ist, benötigt eine entsprechende Infrastruktur. Das ist unumstritten. Deshalb darf man hoffen, dass Verkehrsministerin Gewessler eine praktikable Lösung für alle finden wird, die sie angekündigt hat. Gewessler ist dabei bedingungslos zu unterstützen - selbst wenn in all den Jahren sämtliche Alternativ-Varianten geprüft wurden, und man am Ende immer wieder bei dem Tunnel als umweltschonendste Variante ankam. Außer, man bevorzugt eine Autobahn, die mitten durch das Naturschutzgebiet gebaut wird.

Die Stadtstraße - eine eigene Geschichte

Die Besetzung der Baustelle der Wiener Stadtstraße ist eine eigene Sache. Dieses Projekt wurde von der grünen Umweltministerin Gewessler genehmigt, an dem Projekt hängen Wohnungen für 60.000 Menschen. Man kann natürlich der Meinung sein, dass Straßen grundsätzlich schlecht sind. Selbst wenn sie von E-Autos befahren werden. Hier geht es aber um eine gesellschaftliche und soziale Verantwortung, und nicht um Ideologie. Es geht um den Bau von sozial geförderten Wohnungen. Es geht um die Alleinerzieherin mit zwei Kindern; es geht um die sozial schwache Großfamilie, die sich mit ihrem geringen Einkommen am freien Markt keine Wohnung leisten kann.

Das völlige Versagen der Stadt

Das rechtfertigt aber absolut nicht das völlige Versagen der Stadtregierung. Es sorgt für Entsetzen, dass unter der ehemals führenden Global 2000-Aktivistin Ulli Sima auch minderjährige Kinder mit Klagen eingedeckt wurden. Das ist inakzeptabel. Dass die Stadt nun die Klagen gegen die Minderjährigen zurück gezogen hat, samt öffentlicher Entschuldigung, ist ein erster Schritt zur Lösung. Gegen Erwachsene bleiben die Klagen aber aufrecht.

Es ist aber endlich Zeit, Emotionen, Vorurteile und Ideologie beiseite zu lassen. Betrachtet man das wichtigste Infrastrukturprojekt Wiens samt Stadtstraße ausschließlich anhand nüchterner Fakten,  wird klar: Es wäre notwendig, den Umfahrungsring zu schließen. Für die Lebensqualität in Wien, für die Arbeitsplätze in wirtschaftlich schwierigen Zeiten; und damit die Abgase des täglichen, oft stundenlangen Staus auf der völlig überlasteten Tangente nicht mehr dem Klima stärker schaden als der flüssige Verkehr auf einer Umfahrung.

Vor wenigen Tagen war ich wieder in der kleinen Stadt in der Steiermark, in der ich aufgewachsen bin. Der Weg ins Zentrum führte an meiner alten Volksschule vorbei. Es war ruhig. Denn niemand würde heute auf die Idee kommen, die ursprünglich umstrittene Umfahrung abzureißen - und den Verkehr wieder mitten durch die Stadt zu leiten.

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