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"The Lost Daughter": Am Strand mit Elena Ferrante

Olivia Colman in "The Lost Daughter".
Olivia Colman in "The Lost Daughter".(c) YANNIS DRAKOULIDIS / NETFLIX, 2021
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In Maggie Gyllenhaals Elena-Ferrante-Verfilmung „The Lost Daughter“ wiegt sich Olivia Colman in Unsicherheit. Toll.

Urlaub am Meer. Ruhe, Rast, Regeneration? Nicht im Kino! Wäre ja auch langweilig, anderen beim trägen In-der-Sonne-Liegen zuzuschauen. Daher sind Urlaubsfilme in der Regel Chaosfilme, von Gerhard Polts „Man spricht deutsch“ bis zu Harald Sicheritz' „Poppitz“, vom französischen Ulk „Les Bronzés“ bis zum rezenten Fantasyhorror „Old“. Selbst der psychologisch anspruchsvolle Film lässt seinen Figuren in den Ferien keinen Frieden. Da wird „Der Swimmingpool“ (1969) zum Tatort – und der Mörder ward nie gefunden, denn: „Nur die Sonne war Zeuge“ (1960).

Ganz fern einer gewissen seelischen Realität sind diese ferialen Leinwandturbulenzen aber nicht. Schließlich bietet die Freizeit an fernen Orten unseren sonst so pragmatisch gezügelten Gemütswallungen Raum zum Aufbranden – und bisweilen zum Überschwappen. Auch das macht „The Lost Daughter“, Maggie Gyllenhaals freie Verfilmung eines frühen Romans von Elena Ferrante („Frau im Dunkeln“), so glaubhaft: Dramaturgische Volten bleiben hier über weite Strecken dezent oder nur angedeutet, die wahren Wirrnisse finden im Inneren der urlaubenden Heldin statt.

Ein Psychothriller über Selbstfindung

Leda (famos: Olivia Colman) heißt sie – eine Literaturwissenschaftlerin, die sich eine Auszeit auf der griechischen Insel Spetses gönnt (wo der Film tatsächlich gedreht wurde). Die Sonnenbesinnlichkeit wird bald gestört, als Barbaren den Strand stürmen: eine ungebärdige Großfamilienbande, deren Bahöl die sensible Intellektuelle in Deckung schickt. Bis sie der jungen Mutter Nina (Dakota Johnson) hilft, ihre verlaufene Tochter wiederzufinden. Die schrille New Yorker Sippschaft ist unendlich dankbar, obwohl das Mädchen nicht zu weinen aufhören kann – es hat seine Lieblingspuppe verloren.

Diese hat Leda nämlich heimlich eingesteckt. Warum nur, warum? Der Rest des Films geht dieser Frage nach, die Protagonistin weiß zunächst selbst keine Antwort darauf. Irgendetwas – das Wetter, die Hitze, der Aufruhr, der Mond – hat sie in einen Schwebezustand versetzt, ein bitzelndes Schwanken zwischen Übermut und Heidenangst, das zugleich alles möglich macht und in Zweifel zieht. Sie, die alternde Akademikerin und geschiedene Mutter zweier erwachsener Töchter, flirtet jetzt mit dem Studenten im Ferialjob (Paul Mescal), der sie vor Ninas Mischpoche warnt: Mit denen sollte man es sich besser nicht verscherzen, wenn einem Leib und Leben lieb sind.

Trotzdem gibt Leda die Puppe nicht zurück. Auch als sie merkt, dass Ninas Tochter darob keine Ruhe gibt, ihre Mutter mit Quengeleien auf die Palme treibt. Stattdessen sucht sie die Nähe der undurchsichtigen und drohend überfreundlichen Frau, setzt ihr sogar auf freche Weise zu. Und als Ledas verwitterter Vermieter (Ed Harris) ihr zaghaft den Hof macht, kann sie sich nicht zwischen kalter Schulter und Schäkerei entscheiden. Ein Psychothriller der Gefühle!

Triebfeder des zum Teil riskanten Wankelmuts ist die Vergangenheit, die sich in abrupten Rückblenden Bahn bricht. Dort hadert schon die junge Leda (Jessie Buckley) mit ihrer Identität: Das Muttersein liegt ihr nicht, genervt von den Kindern und ihrem schwachbrüstigen Partner sucht sie den Ausbruch in die Uni-Karriere, wo eine Affäre mit einem bärtigen Diskursakrobaten (gespielt von Gyllenhaals Ehemann Peter Sarsgaard) ihre Lebensgeister beflügelt. Doch die Gewissensbisse bleiben. Durfte sie das? Ihrer Brut den Rücken kehren, sich einfach wieder umentscheiden und freien Mutes selbst verwirklichen? Gyllenhaal meint (mit leisen Vorbehalten): Ja, sie musste sogar!

Doch bis dahin hält der Film, der das eher abgegriffene Arthouse-Motiv „Selbstfindung im Alter“ wieder fein rausputzt und scharfschleift, gekonnt seine emotionale Spannung. Wie ein Netzroller auf der Kippe zittert die Handlung über Abgründen, die stets schemenhaft bleiben, vibriert die wendige Handkamera vor mal banger, mal freudig aufgeregter Energie. Ein Urlaub, der unberechenbar bleibt – im besten Sinne.

The Lost Daughter: Noch im Kino (30.12.2021), ab 31.12.2021 auf Netflix.

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