Digitale Nomaden sind frei, flexibel und überall auf der Welt zu Hause. So lautet jedenfalls das angestrebte Ideal dieses Lebens- und Arbeitsstils. Anna Oladejo und Fabio Hildenbrand sind zwei von ihnen.
Es war 1983, zehn Jahre vor der Erfindung des World Wide Web, als Steve Roberts, ein freiberuflicher Schriftsteller und Unternehmensberater aus den USA, beschloss, sein Liegerad zu einem mobilen Büro umzubauen. „Irgendwann dachte ich: ,Moment mal, freiberufliches Schreiben soll doch eine Lizenz zur Freiheit sein, und ich bin an meinen Schreibtisch gekettet‘“, sagte Roberts dem US-amerikanischen Magazin „Fast Company“ im vergangenen Sommer. Er entschied also, seine Besitztümer zu verkaufen, um von dem zu leben, was er an seinem Fahrrad befestigen konnte. Dazu gehörten: ein portabler Computer, ein Funkgerät, ein Solarpaneel und eine in das Lenkrad eingebaute Tastatur, die es ihm ermöglichte, in die Pedale zu treten, während er E-Mails auf CompuServe (dem damaligen Vorreiter der Internetdienstanbieter) schrieb und Artikel für Computerzeitschriften verfasste. Er schrieb und trat, gleichzeitig, um sich seinen Traum vom Reisen zu finanzieren.
Was damals wie heute verrückt klingt, ist mittlerweile zum Massentrend geworden. Digitale Nomaden haben eine Vision: ein freies und multilokales Leben zu führen mithilfe digitaler Technologien. Das bedeutet, dass sie meist nicht nur an einem Ort leben und arbeiten, sondern die Welt als ihr Zuhause betrachten. Gearbeitet wird von einem Crowdworking-Space aus ebenso wie in einem Boot, am Strand, im Garten, am Berg, im Van – das Repertoire an Möglichkeiten ist groß.
Die Generation der Digitalisierung
Anders als Roberts reisen die Nomaden heute anstatt mit einem selbst gebastelten Tech-Rad mit dem Flugzeug und dem Zug. Gleich geblieben ist, dass es ihnen darum geht, während des Arbeitens andere Kulturen zu erkunden. Smartphones, Laptops und der Zugang zum Internet sowie soziale Medien machen es möglich. Digital Natives sind mit der Digitalisierung aufgewachsen. Sie zählen zu der Generation der Millennials, wie die in den Jahren von 1980 bis 1997 Geborenen auch genannt werden. Was sie von diesen aber doch wieder abhebt: Sie reisten schon sehr jung sehr viel, sind bestens vernetzt und ausgebildet.
Eine Umfrage, über die die Jobbörse Absolventa 2014 berichtete, ergab, dass sich knapp 60 Prozent der Generation Y, wie die Millennials auch genannt werden, gut vorstellen können, im Ausland zu arbeiten und zu leben. (Diese Zahl bezieht sich auf Deutschland. Umfragen aus anderen Ländern bringen ähnliche Zahlen hervor.)
Fabio Hildenbrand, Unternehmensgründer und digitaler Nomade aus dem deutschen Heidelberg, ist auch ein Millennial. Als 23-Jähriger gründete er im Sommer 2020 das Unternehmen Backpacker Trail, das Menschen dabei hilft, möglichst problemlos ihrer Leidenschaft zu folgen: dem Reisen. Seine Kunden, ebenfalls digitale Nomaden, sind am häufigsten in digitalen Berufen tätig. Das bedeutet: Sie verdienen ihren Lebensunterhalt meist mit Affiliate-Marketing, also Kooperationen zwischen Verkäufern und Websitebetreibern, (Reise-)Blogs, Social-Media-Partnerschaften, E-Commerce, Webdesign und Programmierarbeiten, wie aus einer Infografik der Unternehmertum-Plattform preneur.de aus dem Jahr 2016 hervorgeht.

Hildenbrand entdeckte seine Liebe zum Umherwandern nach der Matura: „Nachdem ich in den USA und Australien war und dann eine Zeit lang in London zum Geldverdienen, ging es weiter nach Lateinamerika“, erzählt er. Um sich dieses Leben leisten zu können, arbeitete er als Kirschenpflücker, Englischlehrer oder half auf einer Schaffarm aus. „Es waren zwei Jahre, in denen ich einfach nur um die Welt gereist bin, gearbeitet und für mich festgestellt habe, dass ich das Know-how, das ich mir angeeignet habe, anderen Leuten auch zur Verfügung stellen will.“
Doch was bietet sein Start-up konkret? Eine Software filtert persönliche Präferenzen des Nutzers, um eine individuelle Reiseroute zu erstellen. Dabei können Rucksacktouren in mehr als 90 Destinationen realisiert werden. „Unser Geschäftsmodell besteht darin, insbesondere die Recherche, Planung und Durchführung der Reise für Backpacker durch das Service unserer Web-Applikation zu unterstützen, damit die Organisation der Reise nicht zum Hindernis wird“, sagt Hildenbrand, der seinem LinkedIn-Profil zufolge selbst schon 55 Länder bereist hat. „Was Reisebüros in Stunden machen, bietet wir innerhalb von einer Minute.“
„Die Flexibilität auskosten“
Auch Anna Oladejo fühlt sich den digitalen Nomaden zugehörig, obgleich sie mit ihren 53 Jahren nicht mehr zu den Millennials zählt. „Mir geht es darum, die Flexibilität auszukosten in anderen Umgebungen, in anderen Kulturen mit anderen Menschen und Systemen“, sagt die Kulturanthropologin. Durch ihre Reisen in Afrika will sie zudem die dortigen Märkte verstehen und erschließen. Noch bedient sie als Marketing-Expertin und Gründerin der Werbeagentur Interlink Marketing mehrheitlich den österreichischen Markt.
„Die Arbeit steht sehr wohl im Vordergrund, nicht der Spaß. Das Klischee, dass wir alle nur auf Urlaub wären, möchte ich aus dem Weg räumen“, sagt die Vorarlbergerin, die den Großteil des Jahres 2021 in Ghana, Gambia und Kamerun verbracht hat. „Die Arbeit ist, was mich antreibt, das zu tun“, sagt sie. „Der Blick auf das schöne Meer hinter dem Schreibtisch ist einfach nur eine zusätzliche Motivation.“ Während sie den afrikanischen Onlinemarketing-Markt kennenlernt, sich mit ansässigen Branchenkennern vernetzt, arbeitet sie in ihrer Agentur halb- bis ganztags vom Laptop aus.

Ihr zweites Standbein, BaoBeach Villages, ist ein Projekt, das noch im Aufbau ist. Auf Oladejos erster Reise nach Gambia entstand die Vision, fünf Rundhäuser zu bauen. Daraus entwickelte sie – gemeinsam mit ihren Projektpartnern, Baba Sillah und Jules Mekontchou – eine viel größere Dimension: den Bau von mehreren Eco-Lodges als Kraftorte in verschiedenen Ländern Afrikas.
Nicht frei von Risken
Das digitale Nomadentum ermöglicht ortsunabhängiges Schaffen, das Sammeln neuer Eindrücke, das Kennenlernen von anderen Menschen und Systemen, das Gefühl von Freiheit und Selbstbestimmung, vor allem in Bezug auf die Karriere und Weiterbildung des Selbst. Doch mindestens genauso viele Nachteile prägen den Lebens- und Arbeitsstil: Der häufige Ortswechsel erfordert die Gabe der konsequenten Planung. Der durchschnittliche digitale Nomade hält sich nur wenige Wochen bis Monate am Stück in einem Gastland auf. Nicht ohne Risken: Da die meisten von ihnen nur ein Touristen-Visum besitzen, ist das Recht auf Arbeit oft gar nicht gegeben.
Weiters gilt es, sich über Versicherungen, Zahlungsmethoden und Steuern Gedanken zu machen, um nicht in die Illegalität abzurutschen. Und die Einsamkeit zu bewältigen: Langfristige zwischenmenschliche Beziehungen sind schwer möglich. Für Anna Oladejo kommt noch etwas hinzu: „Für mich ist die größte Herausforderung, tagtäglich eine funktionierende Internetverbindung und eine gute Stromversorgung zu finden – in afrikanischen Ländern scheitert es mitunter schon am Strom.“

In den sozialen Medien – insbesondere auf Instagram –, die von den digitalen Nomaden zuhauf genützt werden, sind freilich nur die Sonnenseiten zu sehen. Dass viele finanziell weit weniger erfolgreich sind als angedeutet, zeigt eine Umfrage der Harvard-Professorin Beth Altringer aus dem Jahr 2015. Demnach sind viele Nomaden teils hoch verschuldet.
Zig Millionen Nomaden
Beth Altringer geht von zehn Millionen bis 100 Millionen digitalen Nomaden weltweit aus. Genaue Zahlen gibt es zur weltweiten Messung nicht. Altringers Schätzungen basieren auf den Daten ihres Projekts „Nomad List“, einer Online-Austausch-Plattform für digitale Nomaden, die mehr als 10.000 Mitglieder zählt.
Schätzungen der IMBO Partners 2021 Study of Independence zufolge ordneten sich allein in den USA im Jahr 2021 rund 10,2 Millionen Menschen diesem Lebensstil zu. Bei 6,3 Millionen Menschen im Jahr 2020 ist das eine Steigung von 42 Prozent. Diese Zahl werde vermutlich noch steigen, wenn Millionen von Menschen die Flexibilität und Freiheit erkennen, die ihnen dieser Arbeitsstil bieten kann, meint Hildenbrand. „Wir in Deutschland und Österreich müssen Strukturen schaffen, die das ermöglichen, denn am Ende geht es ja darum, genau diese jungen Leute auch zufriedenzustellen”, sagt er. Die neue Generation sei ausschlaggebend dabei, einen Wandel der Arbeitswelt anzutreiben. „Die Generation Z (die Nachfolgegeneration der Millennials, Anm.) strebt nach möglich vielen Erlebnissen und Erfahrung. Unsere Challenge als Gesellschaft wird es sein, diese Leute abzufangen und in passende Modelle zu investieren“, sagt Hildenbrand.

Dadurch, dass Home-Office sich in vielen Branchen durchgesetzt hat, hat die Pandemie das digitale Nomadentum zwar befeuert, aber gleichzeitig durcheinandergebracht – das spüren auch Oladejo und Hildenbrand. Coronabedingt sind die beiden Nomaden wieder „nach Hause“ – Oladejo nach Wien, Hildenbrand nach Heidelberg - zurückgekehrt. Konkret: Sie konnten zu ihrer nächsten Reise noch gar nicht aufbrechen. Beide wünschen sich, schon bald wieder im Ausland zu verweilen und zu arbeiten – Oladejo in Kamerun und Hildenbrand in Peru.
Tech-Nomad und Pionier zugleich
Und was geschah mit Steve Roberts? Sein Tech-Rad Behemoth steht heute als Ausstellungstück im Computer History Museum in Mountain View, Kalifornien. Ein Blick auf seine Website verrät: Er verbrachte das vergangene Jahrzehnt damit, entlang der amerikanischen Westküste eine Reihe von Booten auszustatten, von denen er jedes mit einer immer größer werdenden Sammlung aus Tech-Gadgets – von einer Maschinenwerkstatt über einen Funkscanner bis zu einer Thermografie-Anzeige, einer Wetterstation, einem 3-D-Printer, sogar einem portablen Piano – aufgerüstet hat.
Die meisten Gadgets beinhaltet sein letztes Bootprojekt: die Datawake. Das etwa 16 Meter lange Modell aus dem Jahr 1974 funktionierte er in eine „nomadische Forschungsplattform“ um, um von ihm aus „Sonden zu starten, Daten zu sammeln und genügend Werkzeuge an Bord zu haben, um als Nomade von landgestützten Einrichtungen wegzukommen“. Von 2016 bis Ende 2021 wohnte der selbst ernannte „Tech-Nomad“ auch an Bord des schwimmenden Labors. Nun aber ist er an Land gezogen und stellt die Datawake anderen digitalen Nomaden zur Verfügung. Wohin es ihn selbst als Nächstes zieht, verriet er bisweilen nicht.