Barrierefrei

Barrierefrei wohnen: Ein Zugeständnis?

(c) Marin Goleminov
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Ein flacher Boden im Sitzungssaal des sanierten Parlaments, zusätzliche Audiodeskriptionen im ORF: Österreichs Entscheidungsträger entwickeln mehr und mehr Bewusstsein für Barrieren. Doch wie schaut es in den eigenen vier Wänden aus? Eine junge Frau im Rollstuhl schildert ihre Erfahrungen.

Mia ist 25 Jahre alt, auf Wohnungssuche und „very online“, wie sie sagt. Ihre Angelegenheiten erledigt sie am liebsten digital. Nicht, weil das modern ist, sondern weil es im Web weniger Barrieren gibt: Die Wienerin sitzt seit 22 Jahren im Rollstuhl. Unselbstständig macht sie das freilich nicht, noch weniger, seit sie vor fünf Jahren in einen Elektrorollstuhl gewechselt ist. Während Menschen in mechanischen Rollstühlen oft um Hilfe bitten müssen, meistert sie Zugangsrampen zu Lokalen und in öffentliche Verkehrsmittel allein.

Allerdings: Alle Probleme löst das nicht – weder draußen noch in den eigenen vier Wänden. „Mechanische Rollis kann man auf dem Punkt drehen, einen E-Rolli nicht“, sagt Mia. Da dieser einen Wendekreis von mindestens einem halben Meter hat und sie in einem 40 Quadratmeter großen Studentenheim-Appartement wohnt, braucht Mia sehr viel Geschick beim Manövrieren. Verwinkelte Räume sind ihr Feind, das ständige Vor und Zurück zehrt an den Nerven. Die oberen Küchenkästen sind viel zu hoch, der Müllraum ist nicht mit Lift zugänglich, die Tür zur Waschküche schließt automatisch ab. Wenn sie die Wohnung verlässt, kommt nur der Hinterausgang mit Rampe infrage.

Aber mit voller Einkaufstasche auf dem Schoß wird es mühsam, denn einen automatischen Türöffner gibt es leider nicht.

Die Grafik zum Lesen

Wie könnte ein barrierefreier Eingang aussehen?

  • Eine automatische Eingangstür ermöglicht den einfachen Zutritt.
  • Die Trittstufen einer Treppe sollen eine farbliche Kontrastierung und Handläufe aufweisen
  • Der Aufzug selbst sollte stufen- und schwellenlos erreichbar sein und eine blendfreie Beleuchtung aufweisen. Eine ausreichende Bewegungsfläche im und vor dem Aufzug erleichtert den Zugang.
  • Große Bedienelemente mit taktil lesbaren Stockwerksnummerierungen sowie ein optisches und akustisches Signal bei der Knopfbetätigung und beim Erreichen eines Stockwerks erleichtern die Orientierung.

Wie könnte eine barrierefreie Küche aussehen?

  • Die Spüle, Arbeitsplatte und Elektrogeräte sollten für Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer unterfahrbar sein, damit sie auch im Sitzen benutzbar sind. Mit seitlich öffnenden Türen sind sie oft besser zu bedienen.
  • Für Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer soll der Bewegungsradius mind. 150 cm x 150 cm betragen.
  • Die Breite der Türen sollte mindestens 90 cm betragen.
  • Ein flaches Spülbecken sorgt dafür, sodass es auch aus dem Rollstuhl bedient werden kann.
  • Mit Küchenoberschränken in angenehmer Höhe können Teller auch im Sitzen erreicht werden, samt Schubladen oder Drehsystem.
  • Wichtig ist ein rutschhemmender und leicht zu reinigender Bodenbelag.
  • Ein Handlauf entlang der Küchenfront unterstützt unter Umständen das Bewegen in der Küche.

Wie könnte ein barrierefreies Badezimmer aussehen?

  • Für mobilitätsbehinderte Menschen ist eine schwellenlos erreichbare Dusche ideal.
  • Wenn sie sich als Bewegungsfläche mitnutzen lässt, umso besser.
  • Mit gefliester Sitzbank, Klappsitz oder Wandhalterung kann die Dusche eine stabile Position bieten
  • Gute Beleuchtung und Kontraste können für mehr Sicherheit eingesetzt werden, z.B. Akzentstrahler fürs Sichtbarmachen von Stolperfallen oder
  • Sensorgesteuerte Leuchten für die Nachtstunden.
  • Das WC soll gut erreich- und bedienbar sein mit einer angemessenen Sitzhöhe.
  • Der Waschtisch soll unterfahrbar sein. Berührungslose Armaturen sind für sehbehinderte Menschen wenig geeignet, da sie schwierig zu erkennen, und noch schwieriger zu ertasten sind.

Zu guter Letzt: Wie könnte ein barrierefreies Schlafzimmer aussehen?

  • Verwinkelte Bereiche sind zu vermeiden.
  • Steckdosen sollen gut erreichbar sein.
  • Bedienelemente wie Lichtschalter sollten in visuellem Kontrast zur Umgebung stehen und taktil wahrnehmbar sein.
  • Beim Ein- und Ausschalten sollte es eine Rückmeldung für den Nutzer geben, dass die gewünschte Funktion über das Bedienelement ausgelöst wurde. Dieses kann akustisch, visuell oder mechanisch (umgelegter Schalter) sein.
  • Ein Bett in der richtigen Höhe samt Bettgalgen erleichtert das Aufstehen.
  • Schränke mit Schiebetüren eignen sich, um größere Bewegungsflächen zu erhalten.
  • Die Fensterbrüstung sollte auf einer Höhe stehen, die den Blick nach draußen ermöglicht.
  • Ein ausklappbarer Kleiderschrank verleiht NutzerInnen mehr Selbstständigkeit beim An- und Ausziehen.


 

Die Sache mit dem Duschen

„Dann wäre da vor allem eins, das Badezimmer. Da brauche ich Hilfe. Die Dusche ist als barrierefrei gekennzeichnet, aber rollstuhlgerecht: not so much“, sagt Mia. Barrierefreiheit inkludiert die Befahrbarkeit mit Rollstühlen, hierzu müsste die Dusche jedoch ebenerdig sein. Völlig selbstbestimmt wäre sie gern, trotzdem nutzt sie für Duschhygiene und Einkäufe das Betreuungsangebot des Fonds Soziales Wien (FSW). Um ihr Budget für die persönliche Assistenz musste sie schon einige Male kämpfen: „Ich bin halt nicht behindert genug.“ Die Höhe der Pflegegeldergänzungsleistung richtet sich nach dem individuellen Assistenzbedarf. Ein Amtsarzt begutachtet diese Bedürftigkeit – schafft die Antragstellerin es selbstständig auf die Toilette? Kann sie sich selbst verpflegen? „Es ist eigentlich nur eine Momentaufnahme“, sagt Mia.

Aber mit der Küche hat sie Glück: Waschbecken und Herd sind unterfahrbar. In der Toilette sind Griffe zum Auf- und Niedersetzen vorhanden. „Das ist schon mehr als der Standard, glaub mir“, andere hätten es nicht so leicht. „Man muss Kompromisse machen“, sagt Mia und setzt ein müdes Lächeln auf. Als sie noch in der Unterkunft eines staatlich geförderten Unternehmens wohnte, hatte man ihr verwehrt, einen Griff an der Klotür anzubringen.

Emanzipation auf Rädern

„Türen“, seufzt Peer-Beraterin Cornelia Scheuer. „Eingangstüren sind oft so schwer, dass die Leute sie nicht selbst öffnen können, egal ob Neu- oder Altbau. Oder zu schmale Klotüren. Da sehe ich sehr wohl eine Diskriminierung.“ Peer Counseling bezeichnet die Beratung von Betroffenen für Betroffene. Scheuer sitzt selbst im Rollstuhl und berät seit 2006 Menschen mit Behinderungen im Rahmen des Vereins Bizeps – Zentrum für selbstbestimmtes Leben, der auch sozialpolitisch als Interessenvertretung aktiv wird.

Bei der Konsultation begegnen sich Berater:innen und Klient:innen auf der gleichen Erfahrungsebene. „Was bei uns wegfällt, ist dieser Gedanke: ‚Ich als Institution weiß, was für Leute mit Behinderungen gut ist‘“, sagt Scheuer. „Wir fragen in den Beratungen: ‚Was brauchen Sie, um Ihr Leben selbstbestimmt zu führen?‘ Da höre ich dann oft: ‚Wow, das hat mich bisher noch niemand gefragt.‘“

Aber dass Gebäude-, Wohn- und Einrichtungspläne partizipativ entworfen werden, „das muss man ganz einfach verneinen“, sagt Harald Motsch, Leiter der Abteilung Wohnen mit Behinderung des Fonds Soziales Wien. „Es mag Komponenten geben, bei denen man mitreden kann, aber sonst wird Wohnraum in Wien meines Wissens nicht partizipativ geplant, dabei könnte man sich so etliche Irrwege ersparen“, meint der Experte, der selbst keine körperliche Beeinträchtigung hat.

 

Ohne Erschwernis und fremde Hilfe

Dem jüngsten österreichischen Bericht über die Lage von Menschen mit Behinderungen aus dem Jahr 2017 zufolge geben 18,4 Prozent an, eine dauerhafte Behinderung zu haben. Barrierefreiheit verspricht Menschen mit Behinderungen, insbesondere Hör-, Seh- und Mobilitätseinschränkungen, Teilhabe und Nutzung eines Raums ohne Erschwernis oder fremde Hilfe. Mia gehört der umfangreichsten Demografie an, jener der Personen mit Mobilitätseinschränkungen. „Im weitesten Sinne können auch Lieferanten mit schweren Lasten, Eltern mit Kinderwagen oder Reisende mit Koffern temporär dieser Gruppe zugeschrieben werden“, sagt Barbara Sima-Ruml, Lehrbeauftragte an der TU Graz für barrierefreies Bauen und Sachverständige in diesem Bereich. Sie nutzt seit 2001 selbst einen Rollstuhl.

Einen barrierefreien Raum zu planen – das heißt für alle, mit und ohne Behinderung – ist aber gar nicht so leicht, „da sich manche Behinderungen in ihrer Ausformung konträr zueinander verhalten“, sagt Sima-Ruml. Während taktile Bodeninformationen für blinde Menschen zentral zur Orientierung beitragen, können sie für Menschen im Rollstuhl eine störend unebene Oberfläche darstellen. Ein berührungsloser Wasserhahn kann für jene mit einer Versteifung des Handgelenks sinnvoll sein, für sehbehinderte Personen ist der Sensor nur schwer ertastbar.

„In der barrierefreien Gestaltung wird das Zwei-Sinne-Prinzip so oft als nur möglich angewandt“, sagt die Sachverständige. Demnach müssen mindestens zwei der drei Sinne – Hören, Sehen und Tasten – angesprochen werden. Ein Beispiel aus Barbara Sima-Rumls Podcast „Barrierefreies Bauen für alle“: Jemand steigt in einen Aufzug, wählt einen Druckknopf samt erhabener Schrift, dieser leuchtet auf. Eine akustische Aufzugsinformation wird abgegeben: „Ebene drei.“ Die Person steigt an der gewünschten Stelle aus.

Ein Recht auf Zugang

Die Republik Österreich bekennt sich gemäß Art. 7 Abs. 1 der Bundesverfassung dazu, jeden Staatsbürger und jede Staatsbürgerin gleich zu behandeln. Das inkludiert auch Menschen mit Behinderungen. Diese dürfen nicht diskriminiert werden, weder unmittelbar, wenn man etwa eines Lokals verwiesen wird, noch mittelbar, beispielsweise durch eine hohe Türschwelle. Die Detailregelungen hierzu finden sich im Behinderten-Gleichstellungsgesetz, welches, einer EU-Richtlinie folgend, am 1. Jänner 2006 in Kraft trat. Seither dürfen Personen mit Behinderungen von Bauplanern nicht mehr diskriminiert werden, sonst ist ein Schadenersatz zu entrichten.

Aber: „Sobald die Architektin von der Baubehörde ihre Unterschrift auf den Bauplan setzt, reicht das aus meiner Erfahrung schon. Es wird bestätigt, dass das jeweilige Objekt barrierefrei geplant wurde“, sagt Scheuer, „und obwohl sich beim Bau vieles ändern kann, wird bei einer Begehung nicht mehr auf Barrierefreiheit kontrolliert.“

Außerdem gebe es viele Ausnahmen, sagt Gerald Schweidler vom Beratungsunternehmen Comfort4all. Neben landesspezifischen Bau-Vorschriften mache es auch der Konsensschutz komplizierter: „Ein Objekt, das 1960 die Baubewilligung erteilt bekommen hat, ist den damaligen Gesetzen entsprechend auszuführen. Ein Eingriff darin geht gegen die Privatautonomie des Eigentümers. Das sehen wir aktuell auch im Gesundheitsbereich – in die Privatautonomie einzugreifen ist ganz, ganz heikel und muss stark begründet werden.“

Durchbrechen ließe sich das mit dem in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 3 GRCh). „Das wäre eine Variante, der rechtliche Anreiz“, sagt Schweidler, „man kann aber auch mit Förderungen motivieren.“ Mit Kreativität könnten so „grandiose Projekte entstehen, die nicht nach Behinderung aussehen, was ja oft kritisiert wird. In der Bautechnik gibt es für sehr viele Probleme sehr gute Lösungen.“

Vorwärts kommt teuer

„Barrierefreiheit ist für jeden angenehm“, sagt Scheuer, „für Menschen mit Behinderungen ist sie unerlässlich.“ Um das zu erreichen, „braucht es einen Kurswechsel in den Köpfen“ und zwar beginnend beim Wohnraum. Der Stadt Wien zufolge „lässt sich die Anzahl barrierefreier Wohnungen in Wien nur schwer abschätzen. Von den etwa eine Million Wohneinheiten befindet sich der Großteil in Gebäuden, die älter als 50 Jahre alt sind.“

Und sie ergänzt: „Wien ist eine uralte Stadt, dass da der Altbestand nur selten barrierefrei ist, ist schon klar.“ Erfolgsversprechender sei es daher, bei den Neubauten anzusetzen – wenn auch nicht immer leicht: „Es gibt viel zu wenig barrierefreie Wohnungen in Wien. Es ist schwierig für Menschen mit Behinderungen, eine geeignete Wohnung zu finden.“

Mia kann davon ein Lied singen: „Ist ein Wohnraum als ‚barrierefrei‘ inseriert, kostet er mehr als 1000 Euro pro Monat. Wenn doch etwas infrage kommt, gibt es Stufen zum Lift oder ich kann in ein Zimmer nur hinein- und nicht mehr herausfahren.“ Aus vergangener Recherche weiß Mia: „Obdachlosen- und Chancenhäuser sind übrigens selten rollstuhlgerecht.“ Doch die mühsame Suche hat der 25-Jährigen auch Positives gebracht – eine Art Superkraft. So zumindest bezeichnet sie ihre Fähigkeit, Flächen schon durch Fotos sehr gut abschätzen zu können. „Muss ja sein“, sagt sie, „nicht immer ist ein aufschlussreicher Wohnungsplan in der Anzeige.“ Besonders wertvoll sind für Mia virtuelle Rundgänge. So erhält sie eine ziemlich reale Vorstellung vom Wohnobjekt. „Sollte mir das nicht reichen, versuche ich einen Termin vor Ort auszumachen. Dann schaue ich, ob ich in den Lift passe oder Ähnliches.“

Hürdenfreie Zukunft

Schwere Türen, Stufen in das Parterre, Schwellen vor dem Aufzug, hohe Kloschalen – sie werden von den Genossenschaften oder Bauträgern oft ignoriert, „weil der Umbau natürlich Mehrkosten bringt – wobei man sagen muss, wenn man die Barrierefreiheit in einem Haus beim Bau gleich mitplant, dann sind es um die fünf Prozent an zusätzlichen Kosten“, sagt Scheuer, „wenn man sie nachträglich einbauen muss, ist das eine Unmenge mehr.“

Auch Personen mit altersbedingten Mobilitäts- und Sinneseinschränkungen profitieren von vorausschauender Bauplanung. 2040 liegen Prognosen der Statistik Austria zufolge 26 Prozent der österreichischen Bevölkerung über der Altersgrenze von 65 Jahren. Sind wir gut auf die demografische Alterung der österreichischen Bevölkerung vorbereitet? „Nein“, sagt Cornelia Scheuer, „ganz eindeutig nein, weil ältere Menschen durch mangelnde Barrierefreiheit derzeit genauso ausgegrenzt werden wie Menschen mit Behinderungen.“ Wenn Heimhilfe notwendig wird, bedeutet das Folgekosten.

Comfort4all-Projektmanager Schweidler sieht einen kleinen Lichtblick: „Viele glauben, dass eben mit diesem demografischen Argument doch ein großer, präventiver Umbruch in den nächsten Jahren kommen wird.“

„Im Neubau reagiert die Stadt Wien mit anpassbarem Wohnbau auf diesen Bedarf“, heißt es aus dem Büro der Wiener Stadträtin Kathrin Gaál. Der Richtlinie 4 des Österreichischen Instituts für Bautechnik (OIB) zufolge ist dies Wohnraum, in welchem Anforderungen an die Barrierefreiheit bei Bedarf durch bauliche Änderungen leicht erfüllt werden können. „Darüber hinaus bietet die Stadt Wien Förderungen für Maßnahmen zur Barrierefreiheit (z. B. für Badumbauten, Anm.). Es werden auch Teile oder ganze Wohnhäuser entsprechend den Bedürfnissen der Generation 55 plus geplant und gebaut.“

„Es geht nicht von heute auf morgen“, sagt Harald Motsch vom FSW, „aber bei uns sind jedenfalls die richtigen Schritte gesetzt.“

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