Geschichte

Wenn das Erinnern verboten wird

Mann vor dem Gebäude des Obersten Gerichts in Moskau während der Verhandlung gegen die Menschenrechtsorganisation „Memorial“.
Mann vor dem Gebäude des Obersten Gerichts in Moskau während der Verhandlung gegen die Menschenrechtsorganisation „Memorial“.Imago images/ITAR-TASS
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„Memorial“ hat in Russland seit Jahrzehnten den Stalinismus erforscht – auch um die Rückkehr eines autoritären Systems zu verhindern – und wurde jetzt verboten. Das Beschweigen von Tätern ist längst Teil der Erinnerungskultur geworden. Dort – aber auch hierzulande.

In der Alten Gerberei im Tiroler St. Johann ist jeder Platz besetzt. Nur fünfzig Personen sind in Anbetracht der hohen Inzidenz nach den Weihnachtsferien zugelassen, und es wird spontan ein Livestream auf die Beine gestellt. Die Menschen sind gekommen, um den britischen Juristen und Autor Philippe Sands im Gespräch mit Friderica Wächter-Stanfel zu erleben. Sie ist die Enkelin jenes Mannes, der in der internationalen Presse nach dem Krieg den Beinamen „Schlächter von Lemberg“ trug. Otto Wächter war verantwortlich für die Ermordung von einer halben Million jüdischer Frauen, Männer und Kinder, darunter auch achtzig Mitglieder von Philippe Sands Familie. Anders als seine Freunde und Kollegen Hans Frank oder Ernst Kaltenbrunner wurde Wächter niemals verurteilt. Im Mai 1945 tauchte er unter und versteckte sich für dreieinhalb Jahre unweit von St. Johann im salzburgischen Gebirge. Er überlebte mithilfe seiner Frau und eines ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS auf über 2000 Meter Seehöhe. Unterstützt wurde das Trio von Freunden, die Hilfe anboten und dichthielten. Erst nach seiner Flucht nach Rom, von wo er hoffte, über die „Rattenlinien“ nach Südamerika zu gelangen, starb Wächter unter nicht abschließend geklärten Umständen.

Die Atmosphäre im Publikum ist angespannt – denn die Besetzung ist prominent, und das Thema liegt schmerzlich nah: Die erfolgreiche Flucht Wächters ist kein Ruhmesblatt für die Region Fieberbrunn, Radstadt, Bad Gastein und das jahrzehntelange Schweigen in den Gemeinden damit der „Elefant im Raum“. Wer wusste davon? Wer hat die drei unterstützt und war Teil der lokalen Netzwerke ehemaliger Nazis? Wie wurde in den Familien darüber gesprochen – oder geschwiegen? Nicht alle sind erfreut über die Veranstaltung sowie ihre Wiederholung am darauffolgenden Abend im 80 Kilometer entfernten Radstadt: Dazu zählen auch Mitglieder der Wächter-Familie, aus deren Reihen im Vorfeld ein Brief die Organisatoren erreicht: wissenschaftliche Aufarbeitung – ja, alles andere – nein.

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