Militäreinsatz

225 Tote nach Unruhen in Kasachstan, russisches Militär setzt Abzug fort

Nach Massenprotesten in der Millionenstadt Almaty und anderen Regionen hatten die Sicherheitskräfte die Kontrolle über die Lage verloren, der kasachische Präsident bat Russland um Hilfe.
Nach Massenprotesten in der Millionenstadt Almaty und anderen Regionen hatten die Sicherheitskräfte die Kontrolle über die Lage verloren, der kasachische Präsident bat Russland um Hilfe. APA/AFP/VYACHESLAV OSELEDKO
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Der Truppenabzug soll in vier Tagen abgeschlossen sein. Die Entmachtung des Nasarbajew-Clans schreitet unterdessen weiter voran.

Nach den blutigen Unruhen in der autoritär geführten Ex-Sowjetrepublik Kasachstan in Zentralasien haben die Behörden ihre Angaben zur Zahl der Toten und Verletzten deutlich erhöht. Es seien insgesamt 225 Menschen bei den Ausschreitungen in der Millionenstadt Almaty und in anderen Landesteilen getötet worden. Das teilte die Generalstaatsanwaltschaft am Samstag in der Hauptstadt Nur-Sultan mit. Unter den Getöteten seien 206 Bürger und 19 Sicherheitskräfte gewesen.

Am 9. Jänner war zunächst von mehr als 160 Toten die Rede gewesen. Die Zahl der Verletzten wurde nun mit knapp 4600 angegeben - mehr als doppelt so viele wie noch am Sonntag vor einer Woche. Zuvor hatte Präsident Kassym-Schomart Tokajew die Behörden angewiesen, die genaue Zahl der Toten und Verletzten zu ermitteln. Die Lage in dem öl- und gasreichen Land hatte sich in den vergangenen Tagen durch einen von Russland geführten Militäreinsatz der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) stabilisiert.

Truppenabzug in vier Tagen abgeschlossen

Das russische Verteidigungsministerium setzte indes seinen Truppenabzug aus dem südlichen Nachbarland fort. Auf dem Luftwaffenstützpunkt Sewerny in der Nähe der Stadt Iwanowo seien sechs Flugzeuge mit "Friedenssoldaten" der Organisation des Vertrags über die kollektive Sicherheit (OVKS) samt Militärtechnik aus Kasachstan gelandet. Das teilte das Ministerium am Samstag in Moskau mit.

Der Abzug der Truppen der ebenfalls beteiligten OVKS-Staaten Belarus, Armenien, Tadschikistan und Kirgistan hatte am Donnerstag begonnen. Er soll am 19. Jänner abgeschlossen sein. Der in der Geschichte der OVKS bisher beispiellose Einsatz begann am 6. Jänner, nachdem der kasachische Präsident Tokajew das von Russland dominierte Bündnis um Hilfe gerufen hatte. Die kasachischen Sicherheitskräfte hatten in der ersten Jänner-Woche nach Massenprotesten in der Millionenstadt Almaty und anderen Regionen die Kontrolle über die Lage verloren.

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Staatschef Tokajew hatte nach der Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung in dem öl- und gasreichen Land den Rückzug der ausländischen Soldaten angekündigt. Er wies am Samstag den Sicherheitsrat an, die Bildung von Spezialeinsatzkräften und die Reform des Systems der nationalen Sicherheit zu beschleunigen. So sollen Krisen künftig verhindert werden. Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu hatte den Militäreinsatz bei einem Treffen mit Präsident Wladimir Putin als Erfolg bezeichnet.

Ursprung waren Proteste wegen Gaspreisen

In dem über viele Jahre international wegen seiner Stabilität gelobten Land an der Grenze zu China hatte es Anfang des Monats zunächst Proteste gegen eine Verdopplung der Preise für Gas, das als Kraftstoff für Autos genutzt wird, gegeben. Die Demonstrationen schlugen nach wenigen Tagen in rohe Gewalt um. Machthaber Tokajew sprach von einem Angriff "terroristischer Banden". Er hatte einen Schießbefehl erteilt. Es gab mehr als 100 Tote, mehr als 10.000 Festnahmen und Hunderte Verletzte. Nach Angaben der Führung des neuntgrößten Landes der Erde stabilisiert sich die Lage.

Tokajew nutzte offenbar die Unruhen als Gelegenheit, Kreise um seinen Vorgänger Nursultan Nasarbajew zu entmachten. Dieser Prozess schreitet nun wohl weiter voran. Zwei Mitglieder von Nasarbajews Großfamilie - Kairat Scharipbajew and Dimasch Dossanow - hätten die Führung von staatlichen Öl- und Gas-Firmen niedergelegt, teilte der kasachische Staatsfonds Samruk-Kasjna am Samstag mit.

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Nasarbajew hatte Kasachstan seit der Unabhängigkeit als Präsident fast 30 Jahre lang mit harter Hand regiert. 2019 hatte er das Amt an den von ihm selbst ausgewählten Nachfolger Kassym-Schomart Tokajew übergeben. Nasarbajew und sein Clan behielten aber großen Einfluss in Wirtschaft und Politik. Der 81-Jährige hat sich seit Beginn der Proteste am 4. Jänner nicht in der Öffentlichkeit gezeigt.

Scharipbajew ist mit der ältesten Tochter von Nasarbajew verheiratet. Dossanow ist der Ehemann der jüngsten Tochter des Ex-Präsidenten. Tokajew hatte vergangene Woche gefordert, die Gefolgsleute von Nasarbajew sollten ihren Wohlstand mit der Gesellschaft durch regelmäßige Spenden in eine neue gemeinnützige Stiftung teilen.

Am Samstag teilten die kasachischen Behörden außerdem mit, der stellvertretende Energieminister sowie weitere Menschen, die für den "ungerechtfertigten" Gaspreisanstieg verantwortlich sein sollen, seien festgenommen worden.

(APA/dpa/Reuters)

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