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Krakaus goldene Zwiebeltürme

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Was bedeutet es, Europäer zu sein? Nicht nur Sie stellen sich diese Frage täglich vor dem Morgenkaffee, auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron brachte sie am Mittwoch vor dem Europaparlament in Straßburg zur Sprache.

Und er lieferte folgende Antwort: „Es bedeutet, dieselbe Gemütsregung vor unseren Schätzen zu verspüren, von den Hügeln Lapplands bis zu den goldenen Zwiebeltürmen Krakaus, es bedeutet, auf dieselbe Weise zu erbeben im romantischen Geist, zu den Werken Chopins wie zu den Texten Pessoas.“ Ja, ich bebe zu Chopins Nocturnes, fühle in Pessoas „Banqueiro anarquista“ einen Seelenverwandten, aber öha: „goldene Zwiebeltürme“ in Krakau? Gern bin ich in der prachtvollen Königsstadt an der Weichsel, staune vor ihrer Barockpracht, ebenso vor dem Meisterwerk gotischer Holzschnitzkunst in der Marienkirche, dem Hochaltar von Veit Stoß. Goldene Zwiebeltürme hingegen sah ich dort nie. Kann es sein, dass Monsieur le Président sich in der Stadt geirrt hat? Das katholische Krakau mit dem orthodoxen Kiew, Minsk, Pinsk, Omsk, Tomsk, Atomsk verwechselt hat? Falsch! Albert Camus ist schuld, genauer: sein dritter „Brief an einen deutschen Freund“ vom April 1944. Dort schwärmte er von den „bulbes dorées de Cracovie“. Manchmal, scheint's, verstellt uns die Belesenheit den Blick auf die Welt.

Reaktionen an: oliver.grimm@diepresse.com 

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.01.2022)

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