Literatur

Stalken bis zum bitteren Ende

Philipp Winkler widmet sich wieder den Außenseitern: In „Creep“ zeichnet er eine düster-funkelnde Dystopie.

Eigentlich ist sie ja eine sympathische Frau, diese Fanni. Jung, lässig, selbstständig, ein bisschen eigen vielleicht. An den After-Work-Aktivitäten (Achtung, der Roman strotzt vor Anglizismen) nimmt sie nur höchst selten und des lieben Friedens willen teil; lieber bleibt sie stattdessen länger im Büro. Fanni arbeitet für eine Firma, die Überwachungskameras verkauft. Nicht nur für den Hauseingang, auch fürs Wohnzimmer oder die Küche. So sollen sich die Bewohner sicherer fühlen – und werden selbst dauernd beobachtet. Von Fanni etwa, und das ist schon weniger sympathisch. Sie stalkt die Familie Naumann: Vater, Mutter, entzückendes Kind. Da sitzen sie alle beim Frühstück um den Holztisch, und wenn das Kind sich zu viel Müsli in die Schüssel füllt, lacht der Vater nur und sagt: „Was, so viel Hunger hat du?“ Happy, happy, happy. So happy war Fanni nie.

Eigentlich eine bemitleidenswerte Figur, dieser Junya, der zweite Held in Winklers Geschichte. Sitzt zu Hause fest, die Mutter hat ihn aufgegeben und stellt ihm das Essen vor die Tür. Er ist ein klassischer Hikkomori, wie man in Japan diese Zurückgezogenen nennt; es gibt nur ihn, seinen Computer und seine anonymen Freunde, die wohlwollend die Videos kommentieren, welche er regelmäßig hochlädt. Weniger bemitleidenswert: Auf den Videos ist zu sehen, wie Junya sehr wohl manchmal ausgeht, nachts, dann streift er durch Tokio und dringt in Häuser ein, überrascht deren Bewohner im Schlaf und prügelt sie krankenhausreif. Etwa den Lehrer, der ihn verraten hat. So hat er es damals jedenfalls empfunden.

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