Das russische Volk ist in einer schwierigen Selbstfindungsphase. Alte Reflexe waren bisher von Hardlinern leicht aktivierbar. Dass das auch weiter funktioniert, ist plötzlich nicht mehr so sicher.
Wladimir Putin kennt sein Volk. Denn eigentlich – so erzählt es ein hochrangiger russischer Politiker im Gespräch mit der „Presse“ – ist es das Einzige, was der sonst so unerschrocken wirkende Mann wirklich fürchtet. Oligarchen, Peanuts. Der Westen, Frühstücksgegner. Aber mit der Mehrheitsmasse des russischen Volkes will er es sich nicht verscherzen. Und deshalb, so der erwähnte Politiker, würden der Kreml und sein Chef die Stimmungslage im Volk penibel, ja fast neurotisch verfolgen und Umfragen studieren.
Anders als der Westen wusste Putin natürlich immer um den historisch bedingten Charakterzug der Russen, den der große Sowjet-Dissident Andrej Sinjawskij, der 1965 zu sieben Jahren Arbeitslager verurteilt worden war, so beschrieb: „Und doch ist das Wichtigste am russischen Menschen, dass er nichts zu verlieren hat (. . .) Die Bereitschaft, das letzte Stück zu opfern, weil es sowieso das letzte ist und es weiter nichts mehr gibt, Schluss, aus.“