Zugang zum Versteck der Untergetauchten hinter einem Regal im ersten Stock.
Geschichte

Niemand verriet Anne Frank

Wegen gravierender Mängel hat sich diese Woche der Verlag von Rosemary Sullivans umstrittenem Buch „The Betrayal of Anne Frank“ distanziert. Sullivan machte denselben Fehler wie viele zuvor: Sie suchte einen Denunzianten.

Nachdem Dr. Otto Frank, Offizier und Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs, im Mai 1945 aus Auschwitz nach Amsterdam zurückgekehrt war, fand er weder Gattin noch Kinder vor, hoffte aber, seine Töchter Anne und Margot lebend wiederzusehen. Als er die Nachricht vom Roten Kreuz erhielt, wonach die beiden zuletzt im März typhuskrank und moribund in Bergen-Belsen gesehen worden waren und als tot galten, brach für ihn eine Welt zusammen. Gattin Edith war in Auschwitz ermordet worden, ebenso sein Kompagnon, Hermann van Pels senior. Dessen Sohn Peter, den Otto Frank wie seinen eigenen im KZ behandelt hatte, war knapp nach der Kapitulation im Außenlager Gusen verstorben.

Frank hat in all den Jahren nie einen Verdacht geäußert, wer der Verräter sein könnte. Polizeiuntersuchungen in den Niederlanden betrafen mehrere „Verdächtige“, darunter Firmen-Lagerleiter van Maaren und Putzfrau van Bladeren-Hartog. Den Hinweis auf Anwalt Arnold van den Bergh hielt Dr. Frank nicht für bedeutsam. All das spricht dafür, dass es keine auf Personen bezogene Denunziation gab. Vielmehr schöpfte die Gestapo nach anonymen telefonischen Hinweisen auf dubiose Vorgänge im Hinterhaus in der Prinsengracht 263 selbst Verdacht. Angeblich hatte eine Frau bei einem Gestapo-Offizier angerufen, der später als Ohrenzeuge ausfiel, er hatte 1945 Selbstmord begannen. Dieser Anruf brachte eine Kette von fatalen Ereignissen in Gang. Dennoch spricht vieles gegen eine Denunziation von Anne Franks Familie. Auffälligkeiten im „achterhuis“ waren auf das Verhalten der Untergetauchten zurückzuführen, zum Teil durch unvermeidliche Kontakte und Lebensmittellieferungen bedingt.

Mosaiksteine aus den Untersuchungsakten der niederländischen Behörden sprechen dafür, dass die Gestapo wegen gefälschter Bezugskarten für Lebensmittel ermittelte. Ein Indiz dafür ist die sichtliche Überraschung über die acht „onderduiker“, aber auch der Zuständigkeitsbereich des Polizeibeamten und SS-Oberscharführers Karl Josef Silberbauer, der für „Wirtschaftskriminalität“ zuständig war, nicht für Judenverfolgung. In der „Wikipedia“ und von Melissa Müller wird er als SD-Mitarbeiter bezeichnet, doch diesem internen Geheimdienst gehörten fast alle SS-Angehörigen an.

In Amsterdam konnte man im August 1944 mit Hinweisen auf versteckte Juden zwar Schandgeld verdienen, die Hauptsorge der Polizei galt aber dem Verschwinden von Lebensmitteln. Die kriegswichtige Versorgung der Bevölkerung und der Besatzer stand auf der Kippe, Schwarzhandel und Hamstern waren alltäglich. Gefälschte Bezugskarten tauchten auf. Die Theorie des verräterischen Juristen van den Bergh, die unlängst als Sensation kolportiert wurde, steht auf tönernen Füßen. Die aktenmäßig dokumentierten Umstände der Verhaftung und des Verhaltens der Untergetauchten stützen diese These nicht. Die Vorgangsweise der Gestapo grenzte ans Bizarre. Die aus Wien stammende Helferin Miep Gies ließ Silberbauer im Vorzimmer des Büros in der Prinsengracht einfach sitzen, statt sie zu verhaften. Sie sei „so eine nette Person“, er wisse nicht, was er mit ihr anstellen solle, so der SS-Mann.

Beide, Opfer und Täter, stammten aus Wiener Arbeiterbezirken. Ihre Wohnadressen lagen nur einige Straßenbahnstationen auseinander. Der Polizist war zwei Jahre jünger als die treue Mitarbeiterin Otto Franks, fühlte sich in Amsterdam fremd und war zu diesem Zeitpunkt, als sich die Niederlage des „Reichs“ deutlich abzeichnete, abgestumpft und frustriert.

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