Kino

Ein Film lässt uns tief in die Augen einer Kuh blicken

Stadtkino / Mubi
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Vier Jahre aus dem Leben einer Mutterkuh: „Cow“ von Andrea Arnold ist eine faszinierend zärtliche Studie eines Lebewesens.

Menschen, die davor zurückschreckten, Tiere zu töten, seien geprägt von „eitlem Aberglauben“ und „weibischer Barmherzigkeit“. Das schrieb der niederländische Philosoph Baruch de Spinoza im 17. Jahrhundert. Mit dieser Haltung, die das Tier aus ethischen Überlegungen entfernt, stand und steht er nicht allein. Inzwischen jedoch scheint ein Weltbild, das im vernunftbegabten Menschen die Krone der Schöpfung erkennen will, passé. Davon zeugen auch immer mehr Filme. Jüngstes Beispiel: „Cow“ von der britischen Regisseurin Andrea Arnold, die sich bislang mit Spielfilmen wie „Fish Tank“ oder „American Honey“ einen Namen gemacht hat. Wer daran glaubt, dass das Kino den Blick auf die Welt verändern kann, kommt an diesem grandiosen Werk nicht vorbei.

Nüchtern und unfassbar nah begleitete Arnold über vier Jahre auf einem mittelgroßen Familienbetrieb in Kent die muhende, grunzende, schnaubende, schmatzende Mutterkuh Luma. Man sieht, wie sie Milch gibt, Kälber zur Welt bringt und brutal von ihnen getrennt wird, grast, trinkt, schläft und langsam schwächer und unbrauchbar wird. Dabei fokussiert sich die Handkamera vor allem auf die Augen der Kuh. Was im Kino einst die Augen Gary Coopers oder Harriet Andersons bedeuteten, findet sich jetzt in jenen von Luma. Kann man in ihnen ein Bewusstsein erkennen? Sieht man Glück, Trauer, Angst und Wut? Es sind große Fragen, die Arnold ganz ohne Worte stellt. Die Antworten finden sich wohl im Auge der Betrachter.

„Cow“ vollbringt das seltene Kunststück sowohl als ganz direkte Dokumentation als auch als große Metapher zu wirken. Man kann den Film als interessante, sinnlich-wortlose Reportage über die Tiere sehen, die dafür sorgen, dass die Milch im Supermarkt steht. Oder aber man lässt sich ein auf die suggestiven, mitfühlenden Nahaufnahmen und erkennt in ihnen die verborgenen Gefühle eines zur Milchmaschine verurteilten Lebewesens. Dann sieht man eine Tragödie, die von Ausbeutung und im übertragenen Sinn auch der Rolle von Frauen in der Gesellschaft erzählt. Dabei dämonisiert Arnold die Bauern nie. Alle sind Teil einer gnadenlosen Effizienzkette. Alle haben zu funktionieren. Menschen, Maschinen, Kühe.

Hierzulande hat etwa Nikolaus Geyrhalter großartige Filme über die Auswirkungen moderner Landwirtschaft gedreht. Selten aber ist es einem Film gelungen, eine derart identifikatorische Nähe zu einem „Nutztier“ aufzubauen. Darin könnte man auch eine Schwäche erkennen, schließlich bedeutet Identifikation stets auch einen Verlust von kritischer Distanz. „Cow“ spart sich aber Gefühlsduseleien. Stattdessen merkt man, dass Luma mehr und mehr auf uns zurückblickt. Entscheidend ist, was passiert, wenn sich die Blicke von Kuh und Zuschauern treffen.

Das Glück frischen Grases

Schön ist, dass Arnold das Leben Lumas nicht auf diese Zuspitzung reduziert. Die jedes Körpergeräusch registrierende Tonspur sowie die sich teilweise halsbrecherisch unter und um die wuchtige Kuh bewegende Kamera erspürt auch die kleinen, beiläufigen Regungen eines Kuhlebens. Das Glück frischen Grases, die Müdigkeit nach einem langen Tag oder sexuelles Erwachen. Und immer wieder Routinen, in denen die Monotonie des Daseins ganz greifbar wird. Es ist gerade die chronologische Nüchternheit, die das Gewicht der Welt spürbar macht.

„Cow“ provoziert körperliche Reaktionen. Man weint, zittert oder muss die Augen schließen. Er ist zugleich bewegendes Drama, Horrorfilm, Musical, Komödie und Thriller. Vor allem aber ist er die unheimlich zärtliche Studie eines Lebewesens und seiner Rolle auf diesem Planeten.

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