Langsam wächst die Wisent-Population im Białowieża-Nationalpark.
Ostpolen

Elche, Wölfe, Wisente - die friedlichen Riesen in Polens Urwald

Die Heide von Białowieża ist einer der letzten Flachlandurwälder des Kontinents. Zwischen uralten Bäumen leben hier, neben Elchen und Wölfen, die meisten wilden Herden von Europas größtem Landbewohner, dem Wisent.

Wie eine Daunendecke liegt der Morgennebel über Wiese, Wald und Sümpfen. In der Belowescher Heide (Puszcza Białowieska) hat die Dämmerung begonnen, doch Blicke in die Ferne schluckt auf halber Strecke noch die Dunkelheit. Vom Beobachtungsturm reicht das Auge ein Stück weiter. Da – endlich, mitten im diffusen Grau, plötzlich dunkle Flecken. Erdhaufen? Heuschober? Nein, was da fast reglos in der Landschaft steht, sind Wisente, die größten Landbewohner Europas. Durchs Fernglas sieht man ihre Atemwolken.

Einst waren diese friedlichen, scheuen Wildrinder fast auf dem ganzen Kontinent zu Hause. Das Waldgebiet, das sich vom heutigen Ostpolen bis weit nach Belarus hinein erstreckt, war schon vor vielen hundert Jahren ihr wichtigstes Refugium. Nachdem die Wisente zu Beginn des 20. Jahrhunderts in freier Natur bereits ausgestorben waren, startete hier, am Ostrand von Podlachien, ihr Comeback.

In den 1950ern ausgewildert

Ausgerechnet die Jagd, die die Spezies fast vollständig vernichtet hatte, trug gewissermaßen auch zu ihrer Rettung bei. Denn als Exklusiv-Trophäen des Hochadels schützte man die Wildrinder noch lange, als es anderswo schon längst keine mehr gab. Mit den allerletzten zwölf in Gefangenschaft gehaltenen Tieren begann der Neuanfang. Die erste Herde wilderte man in den 1950er-Jahren in der Heimat ihrer Ahnen aus. Ihre Nachkommen leben inzwischen überall auf der Welt.

So ein Wisent ist imposant, aber friedlich.
So ein Wisent ist imposant, aber friedlich.Carsten Heinke

An die Zeit, als litauische Großherzöge, polnische Könige und Kaiser Russlands zum Jagen in die Heide kamen, erinnert der Name des Dorfes Białowieża, der so viel wie „Weißer Turm“ bedeutet. Ein solcher stand hier offenbar – als Teil von einem herrschaftlichen Anwesen. Im Laufe der Geschichte gab es mehrere davon. Doch alle sind verschwunden. Vom letzten, dem Ende des 19. Jahrhunderts gebauten Zarenpalast Alexanders III., blieben nur ein Tor und Nebengebäude. Darin sind heute unter anderem Verwaltung und Museum des Nationalparks untergebracht. Ebenfalls im einstigen Palastpark steht noch ein hölzernes Herrenhaus von 1845.

Wem es nicht gelingt, Wisente in freier Wildbahn zu entdecken, kann sich im Schaugehege des Reservats ein Bild von diesen stattlichen wie liebenswerten Wesen machen. Auch Elche, Hirsche, Wildpferde und Wölfe leben dort.

Seine Majestät, die Eiche

Hauptattraktion des Nationalparks ist jedoch sein scheinbar unendlicher Wald. Mit dem zum Teil hochbetagten Baumbestand und vielen großen, tatsächlich unberührten Weiten gehört er zu den letzten Flachlandurwäldern des Kontinents. Besonders imposant sind seine alten Eichen. Zwei Dutzend von den nach gekrönten Häuptern benannten Baumveteranen lassen sich am rund 500 Meter langen Rundweg der Königseichen bei Pogorzelce bewundern. Während man die meisten Bereiche des Nationalparks auf eigene Faust zu Fuß oder per Rad erkunden kann, sind streng geschützte Zonen nur mit Führern zugänglich.

Märchenkönige tragen rote Mäntel und Pelz aus Hermelin. Dieser hier hat sich in grünen Samt aus Moos gehüllt. Erhaben reckt er seine Krone in den Himmel. Denn seine Majestät ist eine Eiche. Mit 30 Metern Höhe und vier Metern Bauchumfang zählt „August der Starke“ zu den mächtigsten Bewohnern dieses Walds nicht weit vom Nationalparkzentrum. Doch in der Heide gibt es viele, die ihn überragen. Die höchsten ragen es auf bis zu 50 Meter. „Augusts“ kahle Äste sind verwachsen, faltig und vernarbt wie geschundene Menschenglieder. Mancher trägt sie mit Schmerz, der andere mit Stolz und Würde. 1670, als der spätere Kurfürst Sachsens und Polen-König geboren wurde, war der hölzerne Hüne, der heute dessen Namen trägt, bereits ein Bäumchen. Nun ist er ein Denkmal – wie seine 23 Alterskameraden auf dem holzgepflasterten Parcours.

Bedrohte Riesen

Die Tage dieser Riesen sind gezählt. Meistens sterben sie im Stehen und genauso langsam, wie sie wuchsen. So lange auch nur an den letzten Zweigen Knospen sprießen, steckt darin Leben – genau genommen sogar noch nach dem Tod. Denn jeder Baumleichnam bietet Nachbar-Organismen Raum und Nahrung. Pilze und Insekten machen mit der Zeit das tote Holz dem Boden gleich und schaffen Platz für Nachwuchs.

Immer wieder kommt es zu Konflikten zwischen Naturschutz und Holzindustrie in dem sensiblen Gebiet.
Immer wieder kommt es zu Konflikten zwischen Naturschutz und Holzindustrie in dem sensiblen Gebiet.Carsten Heinke

Der Wanderer genießt das Bild der Linien, das der an diesem Wintertag fast nackte Wald aus unzähligen Holzstrukturen zeichnet. Dazwischen flimmern neongrüne Flecken – dick bemooste Rinden alter Eichen, Buchen, Eschen, Linden. Je länger man auf eine Stelle schaut, umso deutlicher wird das System des Wirrwarrs, seine Ästhetik, seine Harmonie.

Bäume retten, Bäume fallen

Sümpfe, feuchtes Laub und Gras dämpfen jeden Tritt und jedes Knacken. Es ist völlig still am Wochenende. Werktags hatte man selbst noch in jüngster Zeit die Kettensägen kreischen hören. Denn obwohl größtenteils als länderübergreifender Nationalpark, Weltnaturerbe und Biosphärenreservat streng geschützt, war dieser Lebensraum von Wisent, Wildpferd, Elch und Wolf sowie hunderter anderer Tier- und Pflanzenarten durch Rodungen gefährdet. Eine Klage des Europäischen Gerichtshofes wurde letztlich respektiert und die Abholzung gestoppt, bis im Herbst des Vorjahres wieder Bäume gefällt wurden.

Tannen tauchen aus dem Nebel auf. Mit ihren herabhängenden Ästen erinnern sie an löchrige Gardinen. Beim Blick hindurch vermischt sich Freude mit Respekt. Auf einer Lichtung steht eine Gruppe dunkler, dampfender Gestalten. Vor Kraft strotzend, wenden sie ganz langsam die Häupter. Der Wanderer in seiner Fantasie erwischt sich bei der Suche nach dem nächsten Baum, auf den er klettern könnte, kämen sie auf ihn zu gerannt. Doch die großen, wunderschönen Tiere trollen sich ruhig in die entgegengesetzte Richtung.

Meisen zirpen. Ein hohler Stamm verstärkt das Klopfen eines Spechts. Es wäre so schön, wenn diese Stimmen der Natur die einzigen Geräusche blieben im Wald der Könige, wo Wisente und Eichen die wahren Herrscher sind.

Ost-Polen: Wisente und Eiche

Anreise: mit dem Auto inklusive Mautstrecke über Warschau und Białystok (von dort über die DW685 sind es 83 km) bis Białowieża oder per Flug bis Warschau, von dort weiter per Zug oder Linienbus über Białystok und Hajnówka bis in den Nationalpark.

Unterkünfte: Gemütliche Zimmer hat der Gästebauernhof Nad Stawami in Belowesch Białowieża, kwateranadstawami.pl,

Naturnah in historischen Bauernhäusern wohnt man bei Sioło Budy, siolo-budy.pl.

Im Bahnhof (1903) des Zaren Nikolai II. serviert das Carska polnische und russische Küche. Stillvoll übernachten kann man u. a. in Salonwagen www.carska.pl.

Aktivitäten: Verwaltung und Besucherzentrum des Białowieża Nationalparks (BPN) befinden sich in Białowieża, www.bpn.com.pl

6 km westlich liegt das Wisentreservat – Rezerwat Pokazowy Żubrów. Viele Rad- und Wanderwege sind frei zugänglich. Die BPN-Schutzzone darf man nur mit zertifizierten Führern betreten. www.bpn.com.pl

Touren in Deutsch bieten z. B. Mieczysław Piotrowski (T +48 691 748 382), Sławomir Przygodzki (T +48 606 443 007) oder Arkadiusz Szymura (kiosk Sóweczka, T +48 669 774 777) – alle ortsansässig. Gegen Eintritt steht Besuchern auch der Weg der Königseichen offen (Szlak Dębów Królewskich).

Fahrradverleih: bei Polana Żubra, www.polanazubra.pl

Tourist-Infos:www.lot.bialowieza.pl, bialowieza.travel

Reiseauskünfte: Polnisches Fremden- verkehrsamt, www.polen.travel/de

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.02.2022)

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