William Turner: „Hastings“ (1830–1835), Öl auf Leinwand, Tate Gallery.
Vorabdruck

Clemens J. Setz: Gedankenspiele über die Wahrheit

Was empfand Grillparzer bei der Anfahrt auf Triest? Trug die Millionärsfigur auf dem Logo des Brettspiels „Monopoly“ ein Monokel oder nicht? Endete der Song „We are the Champions“ mit einem herzhaft intonierten „. . . of the wooooorld!“ oder bloß mit einem knappen Gitarrenakkord? Über Wirklichkeit und Vorstellung.

Ich bekenne: Ich liebe Roger Willemsen. Vor allem seine Reisebücher. Dabei glaube ich nicht unbedingt an ihren Wahrheitsgehalt. Dieser spielt für mich keine besondere Rolle, obwohl Willemsen selbst viele der Anekdoten in Interviews und bei Live-Auftritten durchaus als authentisch darstellte. In dem 2010 erschienenen Buch „Die Enden der Welt“, vielleicht seinem besten, erzählt er folgende amüsante Anekdote über den österreichischen Dichter Franz Grillparzer: „Ich erzähle Ihnen, wie gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Dichter Franz Grillparzer an die Adria reiste, um zum ersten Mal das Meer zu sehen, das er nicht fotografiert oder gefilmt kennen konnte. Ich berichte, wie wir Leser den Atem anhalten, tritt doch hier ein Dichter, ein Mann des Wortes, zum ersten Mal in seinem Leben vor das Original des Ozeans, und was schreibt er in sein Tagebuch: ,So hatte ich's mir nicht gedacht.‘“

Willemsen hatte diese Geschichte mit der unschlagbaren Pointe offenbar sehr gern, denn er erwähnte sie bei jeder seiner Lesungen, die ich über die Jahre besuchte, und ich las sie auch in einem Interview mit Jan Drees: „Mir fällt“, sagt Willemsen da, „immer eine Episode in den Tagebüchern von Grillparzer ein, der ein eher misanthropischer Mann war und der irgendwann einmal zum ersten Mal zum Ozean reist, und wir halten den Atem an, was nicht häufig vorkommt bei Grillparzer, und denken: Wie wird ein Mann, der es nie gefilmt gesehen hat, das Meer sehen? Wie wird er das beschreiben? Und er reist ans Meer. Er steht davor. Und Grillparzer schreibt ins Tagebuch: So hatte ich es mir nicht vorgestellt.“ Grillparzers Tagebücher sollte man unbedingt lesen. Ein herrlicher Brummfetzen. Eine Art Ein-Mann-Twitter im Österreich des 19. Jahrhunderts: schlecht gelaunt, sensibel, reich an Einsichten, reich an Intrigen-Spürsinn, störungsängstlich, poetisch intense, streng im Urteil. Nachdem ich dieser anmutigen Grillparzer-Anekdote nun so oft in Willemsens Worten begegnet war, interessierte es mich natürlich, die Originalstelle zu finden. Ich suchte – und fand sie nicht.

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