Die Opfer ruhen im ewigen Eis

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Die Veröffentlichung der Erinnerungen Schalamows zeigt, dass die stalinistischen Lager noch schrecklicher waren als etwa von Solschenizyn beschrieben - mit Parallelen, aber auch Unterschieden zu den Nazi-KZs.

Es gibt hunderte Berichte von Überlebenden der Nazi-KZs – die Literatur über den sowjetischen Gulag ist demgegenüber überschaubar. Das hat mehrere Gründe. Nach 1945 konnten KZ-Überlebende frei publizieren, im Sowjetreich dauerte Stalins Terror bis zum Tod des Diktators 1953, und auch danach war es nicht möglich, frei zu berichten – mit einer einzigen Ausnahme, als Chruschtschow 1965 während einer Tauwetterperiode den Abdruck von Solschenizyns „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ in der Literaturzeitschrift „Nowij Mir“ gestattete. Dem folgte 1974 der in den Westen geschmuggelte „Archipel Gulag“ Solschenizyns. Danach senkte sich der Vorhang wieder und bis 1989 herrschte Schweigen, wenn man von einigen Samisdat-Veröffentlichungen absieht.

Als die Sowjetunion 1989 zusammenbrach, waren die meisten der Überlebenden des Gulag bereits tot. Immerhin konnten jetzt Schalamows Erzählungen aus Kolyma veröffentlicht werden und erreichten in Russland hohe Auflagen. In deutscher Sprache gab es bisher nur einzelne Übersetzungen dieses Autors. Nun liegt der dritte Band einer auf sechs Bände konzipierten Werkausgabe Schalamows vor. Dieser Bericht bestätigt, was schon nach Erscheinen des ersten Bandes 2007 zu konstatieren war: Die Stalin'schen Lager waren noch brutaler, als man den bisherigen Berichten entnehmen konnte. Das gilt jedenfalls für Kolyma, jenen Teil Ostsibiriens, in dem die Gefangenen bei bis zu minus 60 Grad Gold, Kupfer und Uran dem harten Boden entreißen mussten.


Auswahl wegen Zensur. Es hätte nicht viel gefehlt und statt Solschenizyn hätte Schalamow den Nobelpreis bekommen. Der verantwortliche Redakteur von „Nowyj Mir“ hatte 1965 von Chruschtschow nur einen Versuch frei für die Veröffentlichung eines Berichtes über Stalins Lager. Der Redakteur hatte die Wahl zwischen Solschenizyn und Schalamow. Er entschied sich für Solschenizyn. Die Entscheidung fiel aus rein taktischen Gründen. Der verantwortliche Redakteur Twardowskij wird mit folgenden Worten überliefert: „Schalamow mag ein besserer Schriftsteller sein, aber Solschenizyn hatte einen Roman, der in einem Stück veröffentlicht werden konnte. Da war es für die Zensur schwierig, das Werk zu entstellen. Bei Schalamows Kurzgeschichten hätte die Zensur die besten Texte einfach herausgeschnitten und der Rest wäre untergegangen.“ So erschien Solschenizyns Werk und damit war eine Vorentscheidung für die Zuerkennung des Nobelpreises gefallen.

Abgesehen davon, dass es bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion 1989 schwierig war, Berichte über den Gulag in den Westen zu schmuggeln, gab es auch grundsätzliche Hemmnisse bei der Rezeption dieser Literatur. Man hatte nach 1945 die KZs von Nazi-Deutschland als singuläres Ereignis gesehen mit dem absoluten Tabubruch der systematischen Vergasung von Juden, „Zigeunern“ und anderen „Untermenschen“. Es galt alles zu vermeiden, was auf eine Gleichsetzung der Stalin'schen Lager mit denen Hitlers hinauslief. Besonders linke Intellektuelle hatten damit ein Problem. Nazi-Deutschland, das war das Reich des Bösen, das mit den KZs Böses gebar. Die Sowjetunion war das Reich des Guten, in dem bei der Verfolgung des Endziels bedauerlicherweise in den Arbeitslagern Tote zu beklagen waren – gewissermaßen ein Kollateralschaden.


Auschwitz ohne Öfen.
Natürlich gab es in der Intention der Lagersysteme Hitlers und Stalins einen gewaltigen Unterschied. Die KZs waren ausdrücklich als Vernichtungslager angelegt, die Lager im Archipel Gulag hießen verschämt Arbeitsbesserungslager. Für die Leidenserfahrung der Lagerinsassen machte das freilich keinen Unterschied. So sah das jedenfalls Schalamow: Die Opfer des Gulag „verdampften nicht aus den Schlöten der Krematorien, sondern sie warten im Fels, sie ruhen im ewigen Eis“. Andere Überlebende des Gulag brachten es auf eine kürzere Formel: „Kolyma, das war wie Auschwitz ohne Öfen.“


Sarte gegen Camus. Als1948/49 die Nachrichten über Stalins Lager den Westen erreichten (das ganze Ausmaß wurde erst in den Sechzigerjahren bekannt), zerstritten sich zwei prominente Schriftsteller Frankreichs. Jean-Paul Sartre, der sich damals voll mit der KP Frankreichs identifizierte, plädierte dafür, nichts darüber zu veröffentlichen. Das würde nämlich nicht die Trauer hervorrufen, dass so was unter Menschen möglich sei, sondern ein Triumphgeheul der Bourgeoisie, die sagt: „Seht, wir haben es immer schon gewusst.“ Albert Camus, bis dahin mit Sartre befreundet, hielt scharf dagegen. Man könne die Wahrheit nicht verschweigen. Sartre brach mit Camus und verspottete diesen als Weichei. Er solle auf die Galápagos-Inseln gehen, dort gebe es keine menschlich-schmutzige Geschichte.

Auch Jorge Semprun, Überlebender des KZs Buchenwald, beschäftigt sich in seinem berühmten KZ-Bericht „Was für ein schöner Sonntag“ mit den beiden Lagersystemen. Er hatte 1969 eine französische Übersetzung von Schalamows Erzählungen aus Kolyma gelesen. Als Kommunist wusste Semprun, warum die SS sein Feind war. In den sowjetischen Lagern hingegen setzte sich die überwiegende Masse der politischen Häftlinge aus Menschen zusammen, die nie die Absicht hatten, das Sowjetregime zu stürzen, ja oft glühende Anhänger des Kommunismus waren. Semprun meint, diese seien daher weder moralisch noch ideologisch gegen das System der Lager gewappnet gewesen. Jewgenija Ginsburg bestätigt das in ihren Erinnerungen an ihre Jahre im Gulag. Beim wochenlangen Transport in Viehwaggons nach Ostsibirien verbaten sich die Insassen Kritik an Stalin: „Stalin kann nicht wissen, welches Unrecht uns geschieht.“ Jewgenija Ginsburg glaubte nach 18 Jahren Gulag zwar nicht mehr an Stalin, blieb aber unbeirrt Kommunistin. Im Vorwort ihrer 1967 im Westen erschienenen Gulag-Erinnerungen schreibt sie: „Wie gut, dass jetzt in unserem Land, in unserer Partei wieder der wahre Leninismus herrscht!“


Ähnliche Lagerstrukturen.
Wüsste man nicht, dass Schalamow das Leben und Sterben in einem Lager Stalins schildert, könnte man viele Seiten lang glauben, es handle sich um ein KZ Himmlers, so beängstigend sind die Parallelen. Die Bewachungsmannschaften überließen die innere Struktur der Lager – ähnlich wie die SS in den Konzentrationslagern – den Häftlingen. Hieß der für die Ordnung im Block verantwortliche Häftling in den KZs Kapo, so trug er im Gulag den stolzen Titel Brigadier. In Kolyma waren das in der Regel Kriminelle, die oft noch grausamer waren als das offizielle Wachpersonal. Im Jahr des großen Terrors 1938 kam das große Morden auch bis Kolyma. Moskau gab für die ganze Sowjetunion ein Plansoll an hingerichteten „Konterrevolutionären“ vor. In Schalimows Lager wurden täglich 50 Häftlinge erschossen. Monatelang wurden bei den Morgen- und Abendappellen zahllose Erschießungsbefehle verlesen. Bei fünfzig Grad Frost spielten Musiker, Häftlinge aus der Gruppe der Kriminellen, vor und nach der Verlesung einen Tusch.


Widerspruch.
Schalamow beharrte darauf, dass das Leben im Gulag viel schlimmer war, als es Solschenizyn schilderte. Er zerstritt sich darüber auch mit dem späteren Nobelpreisträger. Nach Veröffentlichung des „Denissowitsch“ schrieb er ihm einen langen Brief, in dem er die Authentizität der Lagererfahrung Solschenizyns infrage stellte. Es sei unmöglich gewesen, dass im Lager ein Kater herumspazieren konnte, der wäre sofort getötet und gegessen worden. Man konnte auch nicht das Brot in der Matratze aufbewahren, das wäre sofort gestohlen worden. Die Differenzen der beiden beruhten auf der unterschiedlichen Arbeitsweise. Während Solschenizyn die Erfahrungen von mehr als 200 Gulag-Häftlingen sammelte und daraus sein monumentales Epos „Archipel Gulag“ baute, schöpfte Schalamow aus eigenem Erleben. Schalamow war mit 18 Jahren mehr als doppelt so lange in Lagern wie Solschenizyn. Solschenizyn war in einem Sonderlager für Wissenschaftler, in dem es offensichtlich nicht so brutal zuging wie in Kolyma.


Der Tod als Ziel. Die Vernichtung durch Arbeit bei minimaler Ernährung war das erklärte Ziel der Nazis, in Kolyma war es nicht das offizielle Ziel, es lief aber auf dasselbe hinaus. Verschärfend kam dazu der Frost. Die Arbeitszeit betrug 16 Stunden, erst bei Temperaturen unter 50 Grad musste offiziell nicht gearbeitet werden, diese Bestimmung wurde aber praktisch nie eingehalten. Die Häftlinge selbst sahen nie Thermometer. Alteingesessene konnten auch so die Temperatur exakt bestimmen: „Wenn Frostnebel herrscht, sind es draußen minus vierzig Grad, wenn die Luft beim Atmen mit Geräusch ausfährt, doch das Atmen noch nicht schwer wird, sind es fünfundvierzig, wenn Kurzatmigkeit dazukommt, sind es fünfzig Grad. Bei unter 50 Grad gefriert die Spucke in der Luft.“

Schalamow wog schließlich bei 180 cm Körpergröße nur noch 48 Kilogramm, als er ins Krankenhaus kam. Er hätte wohl nicht überlebt, wenn er nicht durch Zufall zu einem Kurs für Krankenpfleger ausgesucht worden wäre. In dieser Funktion sah er, wie verzweifelt die Häftlinge versuchten, ins Krankenhaus aufgenommen zu werden. Die Kranken mischten Blut in den Urin, nahmen fremden Rotz eines Lungenkranken in den Mund, alles nur, um wenigstens einige Tage der mörderischen Arbeit zu entgehen. Schalamow sah viele Häftlinge sterben. Den Toten wurden vor der Beerdigung die Goldzähne ausgebrochen – wie in Auschwitz. Es gab auch noch andere Parallelen zwischen den KZs und dem Gulag. Über den Eingangstoren der Kolyma-Lager stand: „Die Arbeit ist eine Sache der Ehre, eine Sache des Ruhmes, der Tapferkeit und des Heldentums.“ Im KZ Buchenwald hieß es „Jedem das Seine“, im KZ Auschwitz: „Arbeit macht frei“. Die deutschen Sprüche waren kürzer. Der Zynismus war derselbe.

Ulrich Brunner

(*12. 7. 1938 in Wien) begann seine Journalisten-Karriere beim SPÖ-Organ „Arbeiterzeitung“. Er wechselte 1975 zum ORF und war dort 23 Jahre in verschiedenen Funktionen tätig. Legendär wurde er aber auch wegen einer Maßregelung, die ihm durch Bundeskanzler Bruno Kreisky 1981 widerfuhr: „Lernen S' a bisserl Geschichte, Herr Reporter.“ Brunner lebt in Favoriten.

„Künstler der Schaufel, Erzählungen aus Kolyma“ von Warlam Schalamow ist bei Matthes & Seitz erschienen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.11.2010)

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