"Herz des Landes"

Kiew: Von der Bildungs-Metropole zum Kriegsschauplatz

Eine junge Mutter mit ihren zwei Kindern auf der Fluch aus Kiew.
Eine junge Mutter mit ihren zwei Kindern auf der Fluch aus Kiew.imago images/NurPhoto
  • Drucken

Die Hauptstadt der Ukraine ist wissenschaftliches und wirtschaftliches Zentrum des Landes. Fast vier Millionen Menschen leben im Ballungsraum von Kiew und müssen nun um ihr Leben fürchten.

Fast drei Millionen Menschen leben in Kiew. 2.964.448 waren es, um genau zu sein, bei der letzten Volkszählung im Jahr 2020. Der städtische Ballungsraum rund um die ukrainische Hauptstadt ist die Heimat von insgesamt rund vier Millionen Menschen. Vier Millionen, deren Lebensrealität sich nun von einem Tag auf den anderen geändert hat. Kiew ist eigentlich eine Metropole der Wissenschaft und der Wirtschaft, ein Ort, wo Handel und Industrie florieren. Menschen, die gestern noch ihrem friedlichen Leben als reguläre Bürgerinnen und Bürger Europas nachgegangen sind, werden jetzt angewiesen, Molotow-Cocktails vorzubereiten. Sie sollen ihre Häuser nicht mehr verlassen, um den russischen Invasoren nicht in die Hände zu fallen.

Mit fast doppelt so vielen Einwohnerinnen und Einwohnern wie Wien ist Kyiv oder Kyjiw - wie die nicht-russische Bezeichnung richtig lautet – vor Charkiw und Odessa nicht nur Hauptstadt, sondern auch die größte Stadt der Ukraine. Jede zehnte Bürgerin bzw. Bürger der Ukraine lebt hier. Der russische Einmarsch in das „Herz des Landes", wie Kiew von Bürgermeister Witali Klitschko genannt wird, trifft die Bevölkerung und scheinbar auch die Regierung unvorbereitet.

Mit einem derartig schnellen Vordringen der Truppen hat niemand gerechnet. Auch die sieben Brücken über den die Stadt in eine West- und eine Osthälfte teilenden Dnepr konnten die Panzer freilich nicht aufhalten. Innerhalb weniger Stunden hat es die feindliche Streitmacht geschafft, bis unmittelbar in die Nähe des Stadtzentrums vorzudringen.

Wiederholung von "Bagdad 2003“ möglich

Im Interview mit dem „Profil“ hatte Militärexperte Franz-Stefan Gady erst gestern noch als unwahrscheinlichste Variante beschrieben. Nachdem die russischen Truppen die Außenbezirke Kiews de facto überrollt haben, ist ein ähnliches Szenario wie in der Schlacht um Bagdad 2003 nicht mehr reine Dystopie. Eine völlige Einnahme des Stadtzentrums, sowie die gezielte Ermordung von Präsident Wolodymyr Selenskyj könnte unmittelbar bevorstehen.

Vor wenigen Tagen hatte Oberst Markus Reisner vom Österreichischen Bundesheer gegenüber der „Kleinen Zeitung“ gesagt, man müsse erst die Entwicklung der nächsten Tage abwarten, bevor Kiew die passenden Vorkehrungen zur Abwehr der russischen Truppen treffen könne. Auch Militärexperte Walter Feichtinger bezeichnete einen Angriff auf die Hauptstadt gegenüber dem „Kurier“ vorgestern noch als „unwahrscheinlich“.

Das österreichische Bundesheer hatte vier Szenarien entwickelt, wie die russische Invasion ablaufen könnte. Auch eine Einnahme der ukrainischen Hauptstadt war darunter, jedoch nicht in annähernd schneller Geschwindigkeit, wie sie gerade vonstattengeht. Der Grund für diese scheinbare Blauäugigkeit könnte darin liegen, dass man sich im Falle eines Einmarsches ausgeliefert sah. Die russische Streitmacht ist dem ukrainischen Militär haushoch überlegen. Einzig die unzähligen Bunker und Schutzräume der Stadt könnten Schutz für die Bevölkerung bieten. Auch das russische U-Bahnsystem kann als Zufluchtsort genutzt worden und wurde bereits gestern für die Bürgerinnen und Bürger frei zugänglich gemacht.

„Mutter aller russischen Städte"

Fest steht: Hat Wladimir Putin Kiew gestürzt, kontrolliert er die Ukraine. Witali Klitschko betonte gegenüber „20 Minuten“, dass alle Regionen der Ukraine wirtschaftlich von der Hauptstadt abhängig sind. Ähnlich wie die Donau in Wien durchzieht der Dnepr Kiew wie eine Lebensader. Der Fluss macht Kiew zu einem essenziellen Verkehrsknotenpunkt und wichtigem Handelspartner für den Osten.

Der Dnepr teilt die Stadt Kiew in zwei Hälften. (Aufnahme 2014)
Der Dnepr teilt die Stadt Kiew in zwei Hälften. (Aufnahme 2014)(c) imago images/Planet Observer U (Planet Observer UIG via www.im)

Die Einnahme der Hauptstadt hätte sowohl wirtschaftlich und politisch eine große Bedeutung für Russland, als auch symbolischen Charakter. Kiew ist nicht nur Zentrum der Ukraine, sondern trägt makabererweise den Beinamen „Mutter aller russischen Städte“. Aufgrund seiner historischen Bedeutung für die orthodoxe Christenheit wird die Stadt mit ihren unzähligen Kirchen auch als „Jerusalem des Ostens“ gehandelt. Im Zentrum von Kiew befinden sich etliche historische Bauten, die dem Krieg zum Opfer fallen könnten.

Das Kiewer Höhlenkloster etwa ist eine berühmte Wallfahrtsstätte für orthodoxe Christen aus den umliegenden Gebieten und zählt zum Unesco-Weltkulturerbe. Neben mehreren prunkvollen Kirchen mit goldenen Kuppeln, befinden sich in dem Komplex außerdem Katakomben mit den Grabstätten orthodoxer Mönche, sowie eine Sammlung von antiken Goldobjekten aus der Zeit der Skythen. Auch die Sophienkathedrale ist Weltkulturerbe und eines der herausragendsten Bauwerke der europäisch-christlichen Kultur. Seit ihrer Errichtung im 11. Jahrhundert hat sie bereits mehrere Kriege, Zerstörung und Wiederaufbau erlebt und ist somit Sinnbild für den Widerstand. Ein Sinnbild, dass die Kiewer Bevölkerung in den kommenden Tagen dringend brauchen könnte.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.