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Geografie, Atomkraft, Strom: Warum holt sich Putin Tschernobyl?

Über dem ehemaligen Kernkraftwerk Tschernobyl liegt ein Sarkophag aus Schutz vor Strahlung.
Über dem ehemaligen Kernkraftwerk Tschernobyl liegt ein Sarkophag aus Schutz vor Strahlung.REUTERS
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Russische Soldaten haben das stillgelegte Atomkraftwerk eingenommen. Die Ukraine meldet seither eine erhöhte Strahlung, Moskau bestreitet das.

Russische Soldaten haben am Donnerstag das auf ukrainischem Boden befindliche, ehemalige Atomkraftwerk Tschernobyl erobert. „Leider muss ich mitteilen, dass die Zone um Tschernobyl, die sogenannte Sperrzone, und alle Anlagen des Atomkraftwerks Tschernobyl unter der Kontrolle bewaffneter russischer Gruppen sind“, sagte der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal. Drastischere Worte fand Präsident Wolodymyr Selenskyj. Er nannte den  Angriff auf Tschernobyl „eine Kriegserklärung an ganz Europa“.

Die Nachrichtenagentur Associated Press zitierte kurz darauf einen Beamten aus dem ukrainischen Innenministerium mit den Worten, der russische Beschuss habe ein Lager für radioaktive Abfälle getroffen. Es sei ein Anstieg der Strahlungswerte gemeldet worden - was Moskau dementiert: Die Radioaktivität auf dem Gelände bewege sich im normalen Bereich, sagte ein Kremlsprecher am Freitag. Die ukrainischen Atombehörde sieht das anders: Die Strahlung habe zugenommen, verlautbarte sie. Dies liege an den Bewegungen schwerer Militärfahrzeuge in dem Gebiet, durch die radioaktiver Staub aufgewirbelt worden sei.

Vier Gründe für ein AKW

Nicht nur über den Punkt der Radioaktivität, auch über die Gründe für den russischen Angriff auf die Atomruine wird derzeit gestritten. Einiges spricht für die geografische Lage: Tschernobyl liegt nur zehn Kilometer von der Grenze von Belarus entfernt, von wo aus ein Teil der russischen Truppen einmarschiert ist - und bildet nahezu eine Gerade auf dem Weg nach Kiew. „Es ist der kürzeste Weg von A nach B", sagte James Acton von der Carnegie Stiftung für Internationalen Frieden. Die geografische Lage erleichtere den Marsch auf Kiew, bestätigt auch Ex-US-General Jack Keane.

Zum zweiten ist die Einheit 1 des Atomreaktors ein zentraler Energielieferant: Dort wird der Strom für die ganze Region Kiew umgespannt. In anderen Worten: Von hier aus könnte Kiews Stromversorgung gekappt werden.

Zum dritten mutmaßten Beobachter, dass Putin das stillgelegte Atomkraftwerk als Drohkulisse nutzen könnte. Immerhin hatte der Kremlchef verlautbart, dass er auch bereit sei, nuklear zu eskalieren, wenn irgendjemand die russischen Truppen aufhalten möchte. Dafür spricht auch, dass Russland eigenen Angaben zufolge Fallschirmjäger nach Tschernobyl gebracht hat, um das Lager zu bewachen. Fest steht: Ein Angriff auf das Abfalllager könnte radioaktive Partikel auch über die Gebiete der EU befördern.

Eine vierte Mutmaßung lautet, dass Putin mit der Einnahme von Tschernobyl seine Kriegsrhetorik untermauern möchte. Immerhin hat er mehrmals davor gewarnt, dass in der Ukraine Atomwaffen hergestellt werden könnten. „Das ist keine leere Prahlerei“, sagte der Kremlchef etwa am vergangenen Montag in einer TV-Ansprache. „Die Ukraine verfügt tatsächlich immer noch über sowjetische Nukleartechnologien und Trägersysteme für solche Waffen.“

Größte nukleare Katastrophe

Was auch immer die Gründe für die Eroberung waren, unumstritten sind die historischen Eckdaten: Das Unglück von Tschernobyl (108 Kilometer von Kiew entfernt) am 26. April 1986 gilt als die größte Katastrophe in der zivilen Nutzung der Kernenergie. Zwei Explosionen zerstörten einen der vier Reaktorblöcke und schleuderten radioaktives Material in die Atmosphäre, das weite Teile Russlands, Weißrusslands und der Ukraine (die damals noch zur Sowjetunion gehörte) verseuchte. Die radioaktive Wolke zog bis nach Mitteleuropa. Hunderttausende Menschen wurden umgesiedelt, Tausende trugen gesundheitliche Schäden davon.

Dazu gekommen war es aufgrund einer Versuchsreihe in Block 4 des Atomreaktors, die am 25. April 1986  ihren Anfang genommen hatte. Es sollte überprüft werden, ob bei einem Stromausfall die Rotationsenergie der Turbine ausreichen würde, um ausreichend Strom zu produzieren, bis die Notstromaggregate laufen. Der Reaktor sollte für diese Zeit in Betrieb bleiben. Das Notkühlsystem und weitere Sicherheitssysteme wurden ausgeschaltet.

Der Reaktor sollte auf etwa 25 Prozent seiner Leistung heruntergefahren werden, doch die Leistung sank binnen kürzester Zeit rapide ab. Warum ist bis heute ungeklärt. Fest steht: Anstatt den Reaktor abzuschalten, versuchten die Techniker, die Leistung wieder zu steigern und den Versuch trotzdem zu starten. Innerhalb von Sekunden stieg die Reaktorleistung an. Eine Notabschaltung versagte, stattdessen stieg die Leistung ungebremst weiter in die Höhe und gipfelte in einer ersten Explosion, bei der Teile des Reaktors und des 64 Meter hohen Reaktorgebäudes zerstört wurden.

Der Grafitmantel des Reaktors begann zu brennen, Radioaktives Material wurde in die Atmosphäre geschleudert. Wenige Sekunden später folgte eine zweite Detonation. Das Feuer griff auf das Dach von Block 3 über. Feuerwehr und Militär versuchten, den Brand vom Boden und aus der Luft zu löschen - dadurch wurde jedoch der gegenteilige Effekt erzielt: Durch die Abdeckung erhöhte sich die Temperatur und noch mehr radioaktive Materialien entkamen. Erst als der Reaktor – zehn Tage später – mit Stickstoff gekühlt werden konnte, kam das Feuer unter Kontrolle.

„Sarkophag“ aus Beton

Eineinhalb Tage dauerte es indes, bis die Gegend um den Reaktor evakuiert wurde: 135.000 Menschen wurden umgesiedelt. Weitere 300.000 schlossen sich an, weil die Sperrzone (ein 30-Kilometer-Radios um das AKW) durch Dörfer verlief. Später wurden schwere Erkrankungen, vor allem der Schilddrüse, und eine 30mal höhere Krebsrate als vor der Katastrophe festgestellt.

Bis zum Herbst 1986 wurde an einem „Sarkophag“ aus Beton gearbeitet, um ein weiteres Austreten von Strahlung zu verhindern. Er war für eine Dauer von drei Jahrzehnten ausgelegt, zeigte aber schon nach wenigen Jahren Schäden. 2015 wurde eine  neue Schutzhülle fertig gestellt. Im vergangenen Sommer wurde ein neues Atommüllzwischenlager in der radioaktiv verseuchten Sperrzone eingeweiht.  Damit wollte Kiew seine Abhängigkeit von Russland im Atommüllbereich beenden. Im Zuge des 2017 begonnenen Baus wurden etwa 43 Kilometer Eisenbahnstrecke im radioaktiv belasteten 30-Kilometer-Sperrgebiet instand gesetzt.

(hell/APA/Reuters)

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