Glaubensfrage

Das ist keine Probe, das ist ein Ernstfall

Europa ist durch den Ukraine-Krieg brutal aus sanften Träumen geweckt worden.

Der 24. Februar 2022 wird sich genauso im kollektiven Gedächtnis festkrallen wie der 11. September 2001. Seither ist Krieg im flächenmäßig größten Staat Europas, der zur Gänze auf dem Kontinent liegt.

Krieg, tatsächlich. Auch nach mehr als einer Woche mit all den Toten, Verletzten, von ihren Familien Getrennten, Geflüchteten – es ist kaum zu fassen. Europa war über Jahrhunderte von Kriegen gebeutelt. In den vergangenen Jahrzehnten gab es den Anschein eines immerwährenden Friedens (mit Ausnahme der vergessenen immerhin zehnjährigen Jugoslawien-Kriege). Wirtschaft, Wohlstand und Anspruchsdenken sind kräftig gewachsen. Gute Zeiten, alles in allem.

Jetzt müssen die Europäer ihre innere Widerstandskraft beweisen, ihr Vermögen, mit Krisen umzugehen. Das alles, was wir seit diesem 24. Februar erleben und erleiden, ist nicht eine Art Probealarm. Es handelt sich um einen Ernstfall. Er wird nachweisen, wie viel Resilienz Menschen in Demokratien aufbringen und generell pluralistische, marktwirtschaftlich orientierte Staaten.

Dass Europa überall, auch im bisherigen sicherheitspolitischen Irrlicht Österreich, dieser Tage einen völlig unerwarteten Schub an Militarisierung erfährt, ist in hohem Maße bedauerlich und bedrohlich. Das Entsenden von Truppen Richtung Osten, das Aufrüsten der Streitkräfte folgt einer Logik, die in einer Spirale der Gewalt enden könnte. Trotzdem: Es erscheint zumindest aktuell unausweichlich angesichts der Aggressivität Russlands, beziehungsweise dessen Machthabers, Wladimir Putin, der das Land in den Krieg geführt hat; der mit Bomben, Granaten, Gewehren gegen ein von ihm als solches bezeichnetes Brudervolk vorgeht.

Manche Experten geben der Religion Mitschuld an der Eskalation, genauer der russisch-orthodoxen Kirche. Diese ist tief mit der Führung des russischen Staats und dem Militär verwoben, erhält von dort bedeutende Finanzmittel. Der in der orthodoxen Welt mächtige Moskauer Patriarch Kyrill sieht sich auch offenbar gern in der Nähe Wladimir Putins. Ideell sind beide einander ohnehin nahe. Religionssoziologin Kristina Stoeckl hat erst kürzlich in der ORF-Religionssendung „Praxis“ explizit der russisch-orthodoxen Kirche wesentliche Mitschuld am Krieg gegeben. Das Verständnis Russlands als Verteidigerin christlicher Werte gegen einen feindlichen Westen sei zunächst ein theologisches Konzepte gewesen. Das die Politik aufgenommen habe.

Nach einem Gespräch mit dem Nuntius in Moskau, Giovanni d'Aniello, hat Kyrill I. am Freitag gemeint: „Wir versuchen, eine friedensstiftende Position einzunehmen.“ Die Kirche könne nicht „Teilnehmerin eines Konflikts“ sein. Putins Krieg hat er nicht verurteilt. Wir sehen wieder: Die Verquickung von Staat und Kirche ist unselig, jedenfalls aber unzeitgemäß.

dietmar.neuwirth@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.03.2022)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.