Seit 2014 spielt Schachtar Donezk, der zweitgrößte Fußballklub der Ukraine, nicht mehr in seiner Heimatstadt, die Rückkehr in eine russisch kontrollierte „Volksrepublik“ ist undenkbar. Mit Beginn der Invasion stoppte die Liga, alle Legionäre sind geflüchtet, nur Klubangestellte blieben in Kiew, erzählt Schachtar-CEO Sergei Palkin.
Der Jubel in der Donbass-Arena ist lang verhallt. Abgesperrt und seit August 2014 von ersten Kriegswirren in Mitleidenschaft gezogen, wirkt das Oval in Donezk heillos verloren. Galt die Arena, die 2009 auf Wunsch von Oligarch und Schachtar-Klubchef Rinat Achmetow für 320 Millionen Euro gebaut worden ist und der Euro 2012 als Austragungsort für fünf Spiele dienen sollte, einst als Wahrzeichen und Aushängeschild des Kohlereviers sowie der Stadt mit 1,1 Millionen Einwohnern, ist es heute nur noch ein Mahnmal. Eines, das an goldene Zeiten der „Bergarbeiter“ erinnert, an sportliche Höhen der Orange-Schwarzen, die dreizehnmal ukrainischer Meister und viermal sowjetischer Cupsieger waren. 2009 gewann der Klub sogar den Uefa-Cup dank brasilianischer Legionäre und Achmetows Millionen.
In Donezk, Lugansk und auf der Krim begannen Krieg, Bombardements und Schießereien mit russischen Separatisten bereits 2014. Der Fußballklub flüchtete, spielte seitdem in Lemberg, Charkiw und bis zuletzt in Kiew. Pilgerten einst 50.000 Zuschauer stolz zu Heimspielen, wurden es im Lauf der Jahre, fern der Heimat, immer weniger. Schachtar, 1936 als Stachanowez Donezk und als Arbeiterklub (Bergarbeiter erhielten Urlaub für Spiele) gegründet, hatte seinen Glanz verloren. Unsummen hatte Achmetow seit 1996 in den Klub gepumpt, es war ein Kommen und gehen hochpreisiger Legionäre. Aber außerhalb von Donezk begeisterte der Klub kaum.

Alle zwölf Brasilianer evakuiert. Aktuell ruht der Spielbetrieb der ukrainischen „Premjer-Liha“, und Schachtar Donezk ist weiterhin ein Sinnbild des Sports, nein: des ganzen Landes, das schwer vom Krieg gebeutelt wird. Es ist ein Klub ohne Heimat, der Fußball hat so keine Zukunft. Und momentan gibt es auch keine Spieler mehr. Alle Legionäre sind geflüchtet. Alle zwölf Brasilianer und ihre Familien schafften es nach Rumänien. Uefa-Präsident Aleksander Čeferin, Verbandschef Andrij Pawelko, Leonid Oleinichenko, Chef des Fußballverbandes der benachbarten Republik Moldau, und Schachtar-Geschäftsführer Sergei Palkin ermöglichten ihre Rettung. Junior Moraes zeigte sich dankbar. Er war seit 2018 in der Ukraine aktiv, verdiente Millionen und spendete 50.000 Euro für die Kinder von Donezk.
Er wird nie zurückkehren, in das Stadion, dessen Fassaden seit Explosionen und Druckwellen um 30 Zentimeter angehoben wurden. Es ist gesperrt, baufällig, leer. Wann die begonnenen und oft abgebrochenen Wiederaufbauarbeiten fortgesetzt werden, ist unklar. Dort, wo einst im Vereinsmuseum Pokale und andere Exponate schillerten, ist jetzt ein Logistikzentrum für Hilfsgüter, das Achmetow 2014 einrichtete und bis dato finanziert.
Fragen nur via WhatsApp. Schachtar sollte die Antwort auf Real Madrid sein, mit Glamour und Stars. Hätte der Rest der Welt 2014 hingesehen, wer weiß, vielleicht wäre alles ganz anders gekommen, als man flüchten musste. Doch proeuropäische und ukrainisch-nationalistische Proteste, die zum Sturz der Regierung von Viktor Janukowitsch führten, die Annexion der Krim und russische Kugeln ließen damals alles im Donbass-Konflikt explodieren. Prorussische Milizen und Armee lieferten sich erbitterte Duelle, hier entzündete sich so vieles, was in der Gegenwart zum Flächenbrand geworden ist.
Palkin, 47, antwortete auf Fragen der „Presse am Sonntag“, die PR-Direktor Yuri Sviridov per WhatsApp weitergeleitet hatte. Die aktuelle Situation verlange ihm alles ab, er sei mitten in Kiew, sah all die TV-Bilder mit den anrollenden Panzern und Soldaten. „Unser Land ist im Krieg. Russland treibt seine Invasion in der Ukraine voran. Es sterben so viele Menschen.“ Nicht nur er hoffte auf weitere Hilfe des Westens, Palkin wandte sich auch an Fußball-Europa: „Ich bitte all die Vereine, gegen die wir gespielt haben, es sind so große Klubs mit Millionen Fans und der Uefa so nahe, um Hilfe. Wir brauchen maximale Unterstützung, Ukraine braucht Ihre Hilfe.“ Alles wird relativ, vor allem dann, wenn Schreckliches ansteht, Gefahr droht, Menschenleben gefährdet sind. Palkin: „Ich habe viele große Siege mit Schachtar gefeiert, tolle Augenblicke. Aber der größte wäre es, mit der Ukraine diesen Krieg zu gewinnen.“
In der U-Bahn-Station. Der Weg dorthin sei jedoch für Außenstehende nur schwer zu beschreiben. Vor allem das Leid und die Angst, die einen ereilen, wenn man in die U-Bahn-Station flüchten muss, wenn die Sirenen ertönen, wieder Luftalarm herrscht. Darum setzte der Klub auch alles daran, „die Familien der Legionäre außer Landes zu bringen“, erzählt Palkin über die Evakuierung. Trainer Roberto De Zerbi (kam von US Sassuolo und war knapp ein Jahr engagiert) und seine italienischen Landsleute schafften es mit dem Zug außer Landes und über Ungarn nach Rom. Im Fall der neunköpfigen Gruppe hatte Italiens Verbandspräsident, Gabriele Gravina, 68, Druck gemacht. Auch die Uefa half, letzte Hürden zu nehmen. Aber: De Zerbi reiste erst ab, als er wusste, dass alle Spieler in Sicherheit waren. Er ließ zwei Offerte ungenützt und wartete mit allen im Hotel. So lang, bis alle weg waren.

In Kiew aber wurde alles noch dunkler, die Angriffe intensiver, die Einschläge lauter. Die Klubangestellten, sagt Palkin, sollten in ihren Häusern, in Luftschutzbunkern, Kellern oder neben all den anderen in den U-Bahn-Stationen bleiben. „Nur dort, wo es sicherer ist.“ Ob einer seiner Spieler zur Waffe greift und gegen die Russen kämpft, beantwortete er nicht. „Wir versuchen, die interne Kommunikation aufrechtzuerhalten, Informationen auszutauschen, uns gegenseitig zu unterstützen. All unsere Gedanken drehen sich um das Ende dieses verrückten Krieges. Über die ukrainischen Soldaten, über diejenigen, die unser Land und sein Recht auf Souveränität und Unabhängigkeit verteidigen.“
Dass Russland im Weltsport mittlerweile isoliert ist, nicht mehr im Europacup und im WM-Playoff (und damit auch nicht beim Turnier in Katar) mitspielen oder das Champions-League-Finale austragen darf, mag ein Trost für viele Ukrainer sein. Alle Reaktionen aus der Welt des Sports würden dahin gehen, nur: Sie stoppen oder beenden nicht das Unheil, das über die Ukraine hereinzieht. Hier sterben Menschen, täglich immer mehr. „Dieser Krieg geht jeden Europäer etwas an“, schrieb Palkin und fügte den Begriff „Wahnsinn“ bei. Aber für Schachtar sind Wahnsinn, Krieg und Vertreibung nichts Neues.
Gibt es denn eine Rückkehr? Seit nunmehr acht Jahren ist der Klub nicht mehr in der Ostukraine, im Donbass, daheim. Die „Volksrepublik“ Donezk ist jetzt ein De-facto-Regime, von Russland und Syrien anerkannt. Was dort passiert, erfährt man in Europa selten bis gar nicht, so Palkin. Erst die Separatisten, dann Corona, jetzt der Krieg, er bat erneut um „Hilfe des Westens“.
Der Flughafen Donezk, 2012 noch von Uefa und VIP-Gästen populär gepriesen, sei seit 2014 nur noch eine Ruine. Das eigene Stadion ist seit damals unbenutzbar, was aber letzten Endes jetzt auch keine Rolle mehr spielt. Es herrscht Krieg, die Menschen hätten Angst und auch kein Geld für Tickets, weil Preise exorbitant gestiegen und regelmäßige Einkommen rar geworden sind. Daran konnte auch Dmitri Trapeznikow nichts ändern. Er war jahrelang führender Teil der Schachtar-Ultras und kurz sogar „Interim-Präsident“ der Volksrepublik. Politik, Fußball und Fankult sind eben ganz andere Welten. Über 14.000 Menschen hatten in der Ostukraine bis zum 24. Februar, dem Tag, als der russische Angriff begann, ihr Leben verloren. Wie viele es jetzt sind, weiß auch Sergei Palkin nicht. Vor allem weiß er nicht, was geschehen wird, wenn dieser Krieg einmal vorbei ist. Ist dann Donezk Teil von Russland, müsste der Klub, so er jemals wieder zurückkehrt in seine Heimatstadt, dann in der russischen Liga spielen? Eigentlich kaum vorstellbar. Wie diese ganze Situation. „Mir fehlen die Worte, all das zu beschreiben.“
FUSSBALL IN DER UKRAINE
Die „Premjer-Liha“ ist die höchste Spielklasse im ukrainischen Fußball. Sie wurde 1991 gegründet, 16 Klubs (413 Spieler) nehmen teil. Titelverteidiger wäre Dynamo Kiew, der Spielbetrieb ist wegen der russischen Invasion derzeit jedoch ausgesetzt.
Schachtar Donezk stellte bis zur Unterbrechung den teuersten Kader mit einem Marktwert von über 195 Mio. Euro (transfermarkt.at). Jetzt haben alle Legionäre und Trainer das Land verlassen.
Zwei Todesfälle
Die internationale Spielervereinigung (FIFPro) gab den Tod von zwei Spielern bekannt. Witalii Sapylo (21, Lwiw) und Dimitri Martynenko (25, Gostomel) kamen bei den russischen Angriffen ums Leben.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.03.2022)