Lissabon

Beim Hut Pessoas, das geht so nicht!

Im Café Martinho da Arcada liegt noch der Hut Pessoas. Sein Tisch wird seit seinem Tod nicht mehr eingedeckt.
Im Café Martinho da Arcada liegt noch der Hut Pessoas. Sein Tisch wird seit seinem Tod nicht mehr eingedeckt.Arnold
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Portugal wäre heuer das Gastland der Leipziger Buchmesse gewesen. Sie wurde abgesagt. Anlass für unseren Autor, auf den Spuren der Dichter durch Lissabon zu stromern, hügelauf, hügelab, und in Cafés zu rasten, wo man einen halben Liter Roten und ein Steak noch mit einem signierten Buch bezahlen kann.

Es gab in Lissabon einmal eine Zeit, da war das Parlament nur das Parlament, und gegenüber vom Parlament gab es ein Café, von dem heute, bis auf den Namen, nicht mehr viel übrig ist. Am Eingang standen Portiere und keine Türsteher, und drinnen arbeiteten Büfettiers und keine Kellner. In diesem Café, so sagt man, wurde die eigentliche Politik gemacht. Hemdsärmelig. Man stritt sich beim Wein und kriegte sich beim Wein wieder ein und stieß an. Sei's drum, nimmst du halt die Fabrikgebäude, dafür bekomm ich das Geld und kann meiner Frau einen Schal kaufen. Es war ein schönes Café, mit Tischlampen, deren Licht nicht ganz bis in die Ecken reichte. 30 Jahre lang machte der Ort einen auf 20er-Jahre, dann wurde das Rauchen verboten, und das Röhrenlicht kam. Die Politiker mussten sich ein neues Café suchen oder gingen wieder ins Parlament.

Schriftsteller kamen selten hierher. Die saßen, je nach Jahrhundert, in anderen Cafés, eins davon ist gleich die Straße hinauf, bleibt aber ein Geheimnis. Dort kann man einen halben Liter Roten und ein Steak noch mit einem signierten Buch bezahlen, und das soll auch so bleiben. Manche Autoren jener Bücher, die in dem Café stehen, sind Statuen geworden, Plätze, ein schöner Park, fast jeder von ihnen eine Straße, und die, die noch nichts geworden sind, warten an der Bar und nennen sich Künstler.

Durch Lissabon fließt eine imaginäre Seine in Form von Hügeln. Die Hügel teilen die Stadt in ein linkes und rechtes Ufer. Meiner Meinung nach beginnt die Bourgeoise-Seite mit der Eça-Statue im Zentrum. José Maria de Eça de Queiroz, geboren 1845, ist Portugals Flaubert oder Fontane, ein gewaltiger Romancier im Gehrock. In „Die Maias“, einer Gesellschaftssatire, beschreibt er 30 Seiten lang ein Haus, das muss man mögen. Eça brachte den Portugiesen bei, über sich selbst zu lachen. Seine Bronzestatue zeigt einen Mann, unter dem eine barbrüstige Muse die Arme ausbreitet. Darunter sein Satz: „Über die nackte Wahrheit, den durchsichtigen Mantel der Fantasie“.

Fast auf dem gleichen Längengrad, die steile Straße hoch, steht Luís de Camões. Portugals Dichterfürst und Verfasser der Lusiaden. Es beschreibt das goldene portugiesische Zeitalter in einer Versform, die Portugiesen vom Altersheim bis in die Disco begeistert. Camões starb so, wie es Portugiesen gerne mögen, erst arm und jetzt gusseisern, so arm, dass man ihm nicht einmal ein Leichentuch besorgen konnte.

Luís de Camões, der Seefahrer

Nach seinem Tod wurde Camões das, was Dante für Italien ist, oder Cervantes für Spanien, gleicher Mühlsteinkragen, aber ohne den ganzen höfischen Mist, ein Odysseus mit Feder. Er hatte nur ein Auge, ist bei einem Schiffsbruch mit seinem Manuskript an Land geschwommen, wurde vom Königshof verbannt, weil er die Damen schwängerte, und versuchte sein Glück als Soldat in den asiatischen Kolonien. Heute steht er vier Meter hoch im Zentrum der Stadt und hat einen schönen Platz ringsum, der auch nach ihm benannt wurde. Das Geringste dafür, dass er das Portugiesische fasste und eine Identität schuf, die den Menschen dieses Landes noch heute sagt, wer sie sind: Abenteurer, Eroberer, Seefahrer, Weltentdecker, einmal Europameister.

Ein Stück weiter unten, direkt vor dem Café A Brasileira steht, nein, noch nicht Fernando Pessoa, sondern ein Dichter, den heute keiner mehr kennt, der aber einem ganzen Viertel seinen Namen gab: António Ribeiro Chiado, Dramatiker, Mönch und Casanova. Und jetzt endlich, direkt davor, Portugals selbstmordgefährdeter Nationaldichter Pessoa. Zu Lebzeiten Buchhalter und Alkoholiker, heute literarischer Exportschlager. Hier steht die Statue, sein Geist jedoch ist woanders. Dafür muss man noch ein Stück weitergehen. Gar nicht weit. Nur die Straße wieder hinunter. So ist das in Lissabon nun einmal.

Von den vielen Aussichtspunkten lässt Lissabon sich bewundern. Gerade jetzt, da die Sonne noch tief liegt, die Schatten lang sind und nicht so scharf. Portugals Hauptstadt atmet kräftig durch, und ihr Atem riecht, wie er aussieht, durchsichtig, windig, warm, atlantisch gereinigtes Ozon. Von den Menschen, die immer in neue Länder müssen, um zu reisen, und darauf hoffen, dass die Länder das Reisen für sie übernehmen, sieht man wenige. Es wird dunkel, bevor die Tage zu Ende sind, und sobald es dunkel ist, geht die Straßenbeleuchtung an.

Dämmerung, der kleine Riss im Universum, der nicht mehr Tag, aber auch noch nicht Nacht ist, Lissabons blaue Stunde. Die Plätze frei, die Wege leer, man kann die Luft sehen, wie sie auf den Plätzen liegt und durch die noch kahlen Bäume weht und alles schöner macht, melancholischer. An der Calçada Da Figueira halten sich die letzten kräftigen Orangen an Bäumen fest. Treppen steigen, Bögen schwingen, und Statuen wachen hoch über den Dingen. Das Laternenlicht trifft auf den Rauch der Esskastanien, der in Lissabon so etwas ist wie Schnee, eine Erinnerung daran, dass noch nicht Frühling ist. Die Wege könnten dann nicht länger sein, und das Leben kommt einem sehr kurz und sehr lang vor, und der Tag hat 24 Stunden, alle gehören dir. Wer sich hier verläuft, ist auf dem richtigen Weg, driftet ab, wie alle Schriftsteller hier, landet in einer Sackgasse Alfamas, vorm Fonte da Poeta, dem Dichterbrunnen; da wollten wir gar nicht hin.

Lissabon bringt eine besondere Form der Literatur hervor; vielleicht ist es gar keine Literatur, sondern etwas Besseres. Es ist das, was man nach Fernando Pessoas Tod in seiner Kommode fand. Schnipsel, lose Gedanken, Notizen, Spaziergänge, das „Buch der Unruhe“, ein lebenslanger Umweg. Beweis, dass hier ein Mensch sich ausdrücken muss, nicht um Künstler zu sein, sondern weil das die Stadt so verlangt. Sie verlangt es von allen, die ihre Gassen und Gässchen erkunden und sich den Geheimnissen aussetzen, die einem als Zufälle getarnt begegnen. Man schaue sich Alain Tanners „Cidade Branca“ an oder Wim Wenders „Lisbon Story“. Immer einer, der planlos durch die Stadt irrt, auf der Suche nach nichts und sich selbst.

Wir sind vom Weg abgekommen – aber was ist das Leben mehr als eine Abschweifung? Um Pessoa zu finden, müssen wir in ein Lokal, in das ich früher sehr viel ging und heute nicht mehr. Seit der Seuche ist der Ort ein anderer. Das letzte Mal war ich mit deutschen Freunden dort, ich schwärmte von Portugal und vom Essen – und wie wir essen und wie lang, ach, bis nach Mitternacht! Aber die Kellner der Martinho da Arcada waren das nach zwei Jahren Sperrstunde nicht mehr gewöhnt und fingen an, vor zehn die Rechnung zu bringen und die Stühle um uns hineinzustellen, und ich ging zu Senhor Antonio und sagte, das geht so nicht, bei Fernando Pessoas Hut, der hier drin immer noch auf der Ablage liegt. Ihr habt eine Vergangenheit, aber wenn ihr auch eine Gegenwart haben wollt und nicht nur Touristen, dann lasst uns in Ruhe essen. Nach diesem Abend ging ich nie wieder hin, und wenn ich jetzt vorbeikomme, mache ich mir vor, ich tue es gar nicht.

Pessoa nutzte das Restaurant als Café und das Café als Büro, wenn draußen auf dem Terreiro do Paço die Sommerhitze drückte. Noch heute wird der Stammtisch des Dichters nicht eingedeckt. Nur sein Gedichtband „Mensagem“ liegt da. Als wäre er nur kurz austreten. Über dem Tisch hängt sein Porträt und auf der anderen Seite ein gerahmter Brief, mit einem roten Kussmund, den ihm seine Freundin schickte. Daneben ist der Brief von Groupie und Dichterkumpel Mário de Sá-Carneiro („Lucios Geständnis“), der gleich hier um die Ecke geboren wurde und sich in Paris erhängte. Viele portugiesische Künstler zog es zu jener Zeit nach Paris, auch Amadeo de Souza-Cardoso, der ein guter Kumpel Modiglianis wurde und mit Utrillo soff und bei seiner Rückkehr die Moderne aus Paris mitbrachte.

In diesem Lokal soll Pessoa, nach Fertigstellung seiner „Mensagem“, an einem Mittwoch im Herbst 1935 seinen letzten Espresso getrunken haben. Kurz darauf war er tot. Sein „Buch der Unruhe“ zeigt, dass es nicht darum geht, gut oder schlecht zu schreiben, sondern zu schreiben, so gut wie man eben kann, und wenn es schlecht ist, ist das auch gut, denn es sagt viel mehr über einen aus, als wenn es gut gewesen wäre. Ich liebe und ich hasse seine Seiten, aber alle sind wahr, so wahr, dass sie beim Lesen einen anderen Menschen aus dir machen.

Es gibt ein Gedicht von Cesário Verde, „Gefühle eines Abendländers“, das es genauso fasst und Pessoa als Inspiration diente. Cesário steht heute als Büste in einem kleinen Park in Estefania. Es ist einer dieser Parks, die man als Schriftsteller gerne werden möchte. Nicht zu groß, nicht zu klein, ein Stück Grün, das man auf Alltagswegen passiert. Es gibt noch so einen Park, der liegt an einer dicht befahrenen Straße, nicht weit vom Marquês Pombal. Camilo Castelo Branco steht da, „Verhängnis der Liebe“ hat er geschrieben. Ein bisschen weiter unten dann Almeida Garrett, Romanschriftsteller, Dichter, Dramaturg, Botschafter und Außenminister, direkt an der Prachtstraße, wo er auch hingehört.

Und die Frauen? Dafür müssen wir wieder einen Hang hoch, aber einen anderen, nach Graça, rechte Seite des „Ufers“, wo Schriftstellerinnen wie Angelina Vidal und Florbela Espanca für ihre Rechte kämpften, für Bildung und dafür, dass sie auch „ficken“ schreiben dürfen. Heute immer noch präsent: Natália Correia, die auf den Azoren geboren wurde und in den 60er-Jahren das Lokal Botequim eröffnet hat, in das ich gerne gehe. Im Estado Novo wurde sie vom Salazar-Regime überwacht, ihre Werke zensiert und ihre erotischen Figuren vor Gericht gestellt. Sie wurde nach der Nelkenrevolution 1974 Abgeordnete des Parlaments. Nach ihrem Tod 1993 wurde das Lokal geschlossen und 2010, an einem heißen Augusttag, dank Freunden wieder eröffnet. Heute sitzt es sich dort immer noch gut, im Hintergrund laufen Amália Rodrigues oder Zeca Afonso und heiße Gespräche, und draußen ist der Platz.

Viele Schriftstellerinnen kamen hierher, unter ihnen Sophia de Mello Breyner Andresen, die unangefochtene Königin der portugiesischen Literatur, Autorin so großartiger Titel wie „Der Name der Dinge“ oder „A Fada Oriana“. Durch ihre Bücher habe ich Portugiesisch gelernt, indem ich ihr Kinderbuchportugiesisch mit den Schimpfwörtern vermischte, die ich an den Theken der Stadt lernte. Man hat einen Aussichtspunkt nach ihr benannt und eine Büste aufgestellt, die über die ganze Stadt schaut.

 

Die rote Tür mit Klinke

Wen hätten wir noch? António Lobo Antunes, über den will ich nichts schreiben, weil alles, was ich über ihn schreiben würde, schlecht wäre. Ich meine: Der Mann hasst Essen und liebt neumodische Einkaufszentren. Das Museum von José Saramago, Portugals Nobelpreisträger, wäre gleich die Straße hinunter, Teil der alten Stadtmauer Alfamas. Dort gehen wir jetzt aber nicht auch noch hin. Er hat in „Eine Zeit, ohne Tod“ diesen gigantischen Satz geschrieben: „Am nächsten Tag starb niemand.“ Der Satz geht noch weiter, wie alle Sätze bei Saramago noch weitergehen.

In „Todesjahr des Ricardo Reis“ nähert sich Saramago seinem Idol Pessoa an und verbringt literarische Quality Time mit ihm. Viele poetische Diamanten stecken in dem Buch, aber sie stecken in diesem Buch, als würfe man sie in die Wüste. Ich kenne keinen Portugiesen, der es nicht liebt, und wenige, die es gelesen haben. Wieder ein Roman, in dem einer fast 500 Seiten lang durch diese Stadt irrt. Antonio Tabucchi, ein Italiener, der in Lissabon wurde, wer er ist, ein portugiesischer Schriftsteller, hat das in „Lissabonner Requiem“ auch getan und sich mit „Erklärt Pereira“ ein Denkmal gebaut und die räudige Sommerhitze festgehalten. Er liegt oben, auf dem Friedhof der Freuden, gar nicht weit von einem anderen Großen, José Cardoso Pires, Autor des „Lissabonner Logbuchs“, noch nicht lange genug tot, als dass man ihn in Figur einer Statue bewundern könnte, aber sein Geist schwirrt immer noch durch die Bars und Cafés der Stadt. Ob im Botequim, der American Bar oder der einen Bar von oben, die ich nicht verraten will.

Wer sich der Stadt überlässt, wird sie finden oder sich von ihr finden lassen. Ein paar Stufen führen zu ihr hinauf, und ein kleiner Brunnen steht da, vor einem mit Drillingsblumen verwachsenem Eingang, rote Tür mit Klinke. ■

Konstantin Arnold, geb. 1990 in Eisenach, ist freier Autor und lebt in Lissabon. 2020 ist sein erstes Buch, „Libertin. Briefe aus
Lissabon“ (Proof Verlag), erschienen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.03.2022)


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