Migrationsexperte Gerald Knaus warnt davor, sich nicht auf die ukrainische Flüchtlinge vorzubereiten. Denn es werden viel mehr sein als 2015.
Die Presse: Der erste Ansturm der Flüchtlinge in Österreich ist gefühlt vorbei. Manche haben das Gefühl, das war es jetzt. Ist dem wirklich so?
Gerald Knaus: Was wir in den letzten knapp über zwei Wochen erleben haben, ist die größte Flüchtlingsbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg. Eine Million Flüchtlinge in der Woche sind aus der Ukraine geflohen. Es gibt keine Anzeichen, dass es aufhört, und wenn nur dieser Trend weitergeht, dann kommen auch in den nächsten zwei Wochen zwei Millionen Menschen.
Wohin?
In den Nachbarstaaten der Ukraine sind jetzt schon zu viele Menschen. 1,7 Millionen Menschen in Polen, 100.000 im kleinen, armen Moldau. Das heißt, die nächsten zwei Millionen, die kommen werden, werden nicht in den Nachbarländern bleiben. Wenn man sich das Eisenbahnnetz ansieht, dann werden sie nach Berlin oder Wien kommen.
Hinweis
Dieses Interview wurde für „Presse Play - Was wichtig wird“, den Nachrichtenpodcast der „Presse“, aufgenommen und für die Print-Version daher stark gekürzt und redigiert.
Das Original-Gespräch können Sie hier nachhören.
Müssen wir mit Bildern wie 2015 rechnen, als Tausende Menschen gleichzeitig in Österreich eingereist sind? Das hat damals ja auch für wahnsinnig viel Angst gesorgt.
Ich glaube, wir müssen mit sehr viel mehr Menschen rechnen als 2015. Und zwar schon in naher Zukunft. Ich glaube, dass schon in den nächsten drei Wochen 150.000 Menschen nach Österreich kommen können. Und dass es uns gelingt, mit anderen europäischen Verbündeten eine Luftbrücke direkt aus den Erstankommstaaten zu bauen, so dass nicht die ganzen zwei Millionen, sondern nur eine Million Menschen nach Österreich oder Deutschland kommen und die andere Million bis Ende März nach Spanien, England, Portugal und Irland gebracht wird. Ich glaube aber nicht, dass das zu Angst führen muss, denn die Empathie in allen europäischen Ländern ist groß.
Man bekommt erst ein Gefühl für Zahlen, wenn man Bilder sieht.
Absolut, und da geht es jetzt um jeden Tag. Alle werden zusammenarbeiten müssen. Man wird jeden Ehrenamtlichen brauchen, aber man braucht auch den Staat, man braucht alle Städte und Bundesländer, um hier nicht unterzugehen. Aber wir haben auch gar keine Wahl. Es ist zu schaffen. Doch man muss von Anfang an kommunizieren, wie groß die Herausforderung sein wird.
Nach der Erfahrung von 2015 tut man in Österreich in der Politik erst wirklich etwas, wenn die Menschen da sind.
Im Durchschnitt sind in den letzten Wochen 150.000 Menschen pro Tag in die EU gekommen. Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015 waren es im Durchschnitt 10.000 am Tag. Das ist also gar kein Vergleich. Die Politiker wissen das. Aus Syrien ist mehr als ein Viertel der Bevölkerung ins Ausland geflohen. Wenn aus der Ukraine ein Viertel der Bevölkerung flieht, sind das zehn Millionen Menschen, das ist keine unrealistische Zahl. Wenn wir jetzt keine Vorkehrungen treffen, riskieren wir, dass Hunderttausende Frauen und Kinder auf der Straße leben.