Der Preis für Lebensmittel dürfte in Europa in den nächsten Monaten um bis zu 20 Prozent steigen. Engpässe wird es nur bei einzelnen Produkten geben.
Nichts geht mehr. Der größte Seehafen der Ukraine in Odessa ist gesperrt. Internationale Frachtschiffe können nicht mehr beladen werden. Russische Streitkräfte greifen nicht nur Städte und Militäreinrichtungen, sondern auch die Agrarinfrastruktur des Landes an. Dazu kommt, dass viele Felder nicht bearbeitet, die Saaten nicht ausgebracht werden können, weil Personal und Ressourcen fehlen. Die Transportwege sind blockiert. Der Krieg in der Ukraine, einem der wichtigsten Agrarproduzenten der Welt, wird Auswirkungen im Nahrungs- und Futtermittelsektor haben – auch auf Europa.
1. Ist die Europäische Union von den Ausfällen durch den Krieg betroffen?
Ja. Derzeit wird durch die Kämpfe mit einen Ausfall von 60 Prozent der ukrainischen Produktion gerechnet. Dauert der Krieg an, ist mit einem noch höheren Ausfall zu rechnen. Das trifft auch die EU. Bisher kamen 19 Prozent der Weizenimporte aus der Ukraine, dazu 13 Prozent der Ölsaaten. Einen Teil davon können die EU-Staaten selbst kompensieren. Im Falle von Sonnenblumenöl wird das nicht möglich sein. 35 bis 45 Prozent des in der EU genutzten und weiterverarbeiteten Öls kommt aus der Ukraine. Der EU-Verband für Pflanzenöl (Fediol) warnte vergangene Woche, dass die monatliche Lieferung von 200.000 Tonnen Sonnenblumenöl nicht mehr in der EU eintreffe.
„Die Versorgung mit Lebensmitteln ist in den vergangenen Jahrzehnten für uns selbstverständlich geworden. Der Krieg Russlands zeigt einmal mehr die dringende Notwendigkeit, dass sich ein starkes Europa selbst mit Lebens- und Futtermitteln versorgen können muss“, sagt Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger (ÖVP). Österreich zählt laut ihrem Ministerium nicht zu den hauptbetroffenen Ländern, was die Versorgungslage angeht. „Österreich ist sehr gut aufgestellt und kann sich bei fast allen Grundnahrungsmitteln gut selbst versorgen“, heißt es auf Anfrage der „Presse“. Bisher wurden nur ein bis zwei Prozent der Ölsaaten aus der Ukraine importiert. Im Falle von Getreide liegt der Selbstversorgungsgrad Österreichs bei 88 Prozent. Die Importe aus der Ukraine sind hier relativ klein.
EU-weit erwarten Experten aber einen Engpass bei Mais und Ölsaaten. Verschärfen wird sich die Lage, da die Ukraine selbst begonnen hat, den Handel zu beschränken, um die Versorgung der eigenen Bevölkerung sicherzustellen. Auch intern in der EU beginnen Regierungen ähnlich wie zu Beginn der Pandemie Produkte zu horten und so wie Ungarn Exportbeschränkungen für diverse Agrarprodukte einzuführen. Budapest hat sich ein staatliches Vorkaufsrecht eingeräumt, bevor solche Waren ins Ausland verkauft werden. Derartige Maßnahmen können den Markt in der EU stören und die Preise zusätzlich in die Höhe treiben.
Der Krieg löst zudem ein weiteres Problem für Europa und andere Kontinente aus. Nicht die Ukraine, aber Russland und Belarus sind die wichtigsten Lieferanten für die Düngerherstellung. Allein 40 Prozent der Kaliumimporte der EU stammen aus Russland und Belarus. Russland hat den Export von Kalium- und Phosphordünger gestoppt. Durch Ausfälle bei Dünger und erhebliche Preissteigerungen kann die Agrarproduktion kaum ausgeweitet werden.
2. Welche Auswirkungen hat dies auf den Preis von Nahrungsmitteln?
Zu sagen, die Agrarpreise hätten auf den russischen Angriff reagiert, wäre eine Untertreibung: Seit dem Beginn der Invasion sind sie regelrecht explodiert – und zwar primär für jene Rohstoffe, die in der Ukraine und Russland für den Export produziert werden: Weizen, Mais, Gerste sowie Sonnenblumenöl. So hat sich beispielsweise Weizen kurzfristig um bis zu 70 Prozent auf das Allzeithoch von 13,40 US-Dollar pro Scheffel (entspricht 27 Kilo) verteuert, zuletzt ging der Preis aber auf rund elf Dollar zurück – ein Plus von 50 Prozent gegenüber dem Jahresbeginn.
Dass die Preise in Dollar denominiert sind, hat damit zu tun, dass der weltweit wichtigste Marktplatz für Agrarprodukte die Chicago Mercantile Exchange ist. Der jüngste Rückgang der Preise wiederum weist darauf hin, dass auf einem globalen Markt ein Angebotsschock wie der Krieg Russlands gegen die Ukraine einen globalen Anpassungsprozess auslöst. Denn glücklicherweise haben Australien und Indien zuletzt überdurchschnittlich gute Weizenernten einfahren können. Dieses Getreide wird nun auf den Markt gebracht – was allerdings kostspieliger ist, denn der Krieg hat auch die Transportkosten stark erhöht, was sich auf die Endpreise niederschlägt. Gleiches gilt übrigens für Agrarproduzenten in Südamerika, die nach Übersee liefern: Diese Fracht über den Atlantik bzw. Pazifik zu expedieren wird kurz- bis mittelfristig definitiv teurer kommen. Und teurer Dünger wird den Preis der künftigen Ernten beeinflussen.
Über aktuelle Auswirkungen herrscht noch Unklarheit. Die jüngste Kalkulation der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin, die bei Weizen einen Preisanstieg von 2,5 bis 20 Prozent ermittelt hat, zeigt die Schwierigkeit der Prognose auf: Denn für den Endpreis ist nicht nur die Menge des angebauten Getreides verantwortlich, sondern es sind auch die Treibstoff- und die Düngemittelkosten – die beide vom Krieg direkt beeinflusst werden.
3. Welche Gegenmaßnahmen sind von der EU geplant?
50 Prozent weniger Pestizide, ein Viertel aller Bauernhöfe in Biobetrieben, beides bis 2030: Dieser Kern der jüngsten Reform der EU-Agrarpolitik ist spätestens seit Montag auf Eis gelegt. Da sprachen sich die Landwirtschaftsminister in Brüssel zu den Folgen des Krieges in der Ukraine aus. Tenor: anbauen und säen, was die Äcker hergeben. „Wir müssen jetzt jeden Quadratmeter Ackerland nutzen, damit wir unseren Bürgern Lebensmittelsicherheit geben können“, sagte der rumänische Landwirtschaftsminister, Adrian-Ionuţ Chesnoiu. „Wir dürfen die Herbstsaat nicht verlieren“, warnte sein italienischer Amtskollege, Stefano Patuanelli. Österreichs Ministerin Elisabeth Köstinger schlug die Nutzung von Brachflächen für den Anbau von Eiweißfuttermittel vor, „die in Europa ganz dringend gebraucht werden“. Das spiegelt sich auch in dem Vorschlag der Kommission zur Steigerung der Lebensmittelsicherheit wider, der am Mittwoch präsentiert wird. Die Mitgliedstaaten sollen (neben einer halben Milliarde Euro an Sonderförderungen und einer beschleunigten Vorauszahlung von Direktförderungen) unter anderem das Recht bekommen, heuer praktisch alle Umweltauflagen für die Landwirte aufzuheben. Ein Fehler, warnt der grüne Europaabgeordnete und Forstwirt Thomas Waitz: Um die Belastung der Böden durch synthetische Pestizide und Dünger zu senken und jene Ökosysteme zu erhalten, die für die langfristige Absicherung der Landwirtschaft unerlässlich sind (Stichwort: Bestäubung durch Insekten), müssten Äcker regelmäßig stillgelegt werden.
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Die Heinrich-Böll-Stiftung betonte, dass die Berechnungen für angepeilte Produktionssteigerungen eher zu hoch gegriffen seien, da Begrenzungen wie Arbeitskräfte- oder Wassermangel nicht einbezogen worden seien. Laut den Experten des österreichischen Landwirtschaftsministeriums gebe es in Europa ein Potenzial von vier Millionen Hektar unbebauter Fläche, die nun genutzt werden könnte. Köstinger drängt auf eine rasche Bebauung: „In zwei bis drei Wochen ist es zu spät. Wenn wir die Brachfläche nutzen wollen, dann braucht es jetzt die notwendigen Maßnahmen. Allein in Österreich könnten wir dadurch rund 9000 Hektar mehr in die Produktion bringen.“
4. Wenn Europa schon leidet, wie groß werden die Auswirkungen auf Entwicklungsländer sein?
Europa wird zwar mit einem erheblichen Preisanstieg bei Lebensmitteln konfrontiert sein. Aber die Versorgungslage ist weitgehend stabil. Die schwersten Auswirkungen des Kriegs werden Entwicklungs- und Schwellenländer mit geringer Eigenproduktion – insbesondere in Afrika – zu spüren bekommen. Neue Hungersnöte sind wahrscheinlich.
Die Ukraine hat im vergangenen Jahr die Rekordmenge von 100 Mio. Tonnen Weizen, Mais und weiterer Getreidesorten geerntet. Der größte Teil davon, rund 70 Mio. Tonnen, wurden exportiert. Hauptabnehmer sind unter anderen Indonesien und Ägypten. Aber auch viele andere Länder, die zwar nicht allein aus der Ukraine importieren, aber auf erhebliche Mengen von Zukäufen angewiesen sind, wie etwa der Libanon, stehen vor Problemen. Denn die Preise werden für sie unerschwinglich.
Erschwert wird die Situation durch zwei Faktoren: Zum einen ist die Ukraine vor der Türkei, Rumänien und Russland die mit Abstand wichtigste Quelle für das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) – 2020 hatte das Land mehr als 400.000 Tonnen Nahrungsmittel geliefert, aus Russland kamen knapp 200.000 Tonnen. Gegenüber der „Neuen Zürcher Zeitung“ ging WFP-Chefin Corinne Fleischer davon aus, dass der Krieg die Versorgung der Ärmsten mit Nahrung um 65 Mio. Dollar verteuert – und zwar pro Monat. Faktor zwei: Durch Überschwemmungen im Vorjahr wird die Getreideproduktion in China heuer schwächeln – und die Volksrepublik im großen Stil zukaufen müssen, was die globale Nachfrage weiter pushen wird. Einziger Trost: Auf russischen Weizen dürfte Peking aufgrund der geopolitischen Lage problemlos (und zu „Freundschaftspreisen“) zugreifen können.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.03.2022)