Vitali Klitschko schildert im „Presse“-Interview seinen erschütternden Kriegsalltag als Bürgermeister von Kiew, rechnet jede Sekunde mit großen Raketenangriffen, hält Putin für „psychisch ungesund“ und verlangt ein Energie-Embargo gegen Russland, auch von Österreich.
Vitali Klitschko erscheint in olivfarbener Kampfmontur auf dem Computerbildschirm. Die Wand hinter ihm ist kahl, sein genauer Aufenthaltsort geheim. Nach einem Monat Krieg sieht der Bürgermeister von Kiew müde aus. Wir fragen ihn, wie es ihm geht. Er seufzt und sagt in perfektem Deutsch: „Ich kann nicht sagen, dass es mir gut geht.“ Klitschko hetzt von einer Krisensitzung zu anderen, von einem zerbombten Haus zum nächsten in seiner belagerten Hauptstadt. Doch 15 Minuten will uns der ehemalige Profi-Boxer für das Video-Interview gewähren. Am Ende werden es fast 40 Minuten sein.
Wie haben Sie die Nacht erlebt, in der die russische Invasion begonnen hat?
Vitali Klitschko: Ich hatte vom Geheimdienst Informationen über eine bevorstehende Invasion, aber glaubte bis zur letzten Sekunde nicht, dass in unserer modernen Welt ein solcher Krieg möglich ist. Ich sage es ehrlich: Wir waren nicht bereit für den Krieg. Wir hatten alle gehofft: Das ist ein Bluff, ein Muskelspiel der Russen. Ich habe auch nicht geglaubt, wie unmenschlich und blutig dieser Krieg wird. In der Nähe von Kiew existieren einige Städte nicht mehr: Irpin gibt es nicht mehr, keine Gebäude, gar nichts. Ähnlich in Hostomel und Borodjanka. Oder schauen Sie sich an, was in Tschernihiw, Charkiw oder Mariupol geschieht: Wir kennen den Namen desjenigen, der dieses Drama über jeden einzelnen Ukrainer und jede einzelne Ukrainerin gebracht hat.
Wie sieht ein Tag als Bürgermeister einer Millionenstadt im Krieg aus?
Es fühlt sich seit Kriegsbeginn an wie ein einziger Tag, der einfach nicht enden will. Bombardierungen, Meetings, Menschen in Sicherheit bringen. Menschen retten. Ihnen Medikamente bringen. Essen organisieren. Wasser. Strom.