Zwischen Ort und zwischen Zeit

Leer stehend, verschlossen und geheimnisumwittert: das ehemalige Kartografische Institut in der Wiener Josefstadt. Ein Kunstprojekt macht es nun zugänglich wie nie zuvor – und wohl nie wieder danach.

Unnahbar, abweisend, stolz, fast ein wenig mit Trotz erfüllt, liegt es hinter dem Park. Hohe Gitter schließen den Hof ab. Strikt ist die Symmetrie. Mit ihrem spärlichen Dekor legt die Fassade ein Zeugnis strenger Zurückhaltung ab. Schweigend ragen die Geschoße in die Höhe. Dieses dunkle Schweigen, welches für die Vorbeigehenden die Ausstrahlung bestimmt, scheint sich auch bis tief in das Innere des Gebäudes hineinzuziehen. Geheimnisse liegen in der Luft.Mit den hellen Stimmen und den schnellen Bewegungen der Kinder, die gegenüber in ihrer Spielzone zugange sind, lässt sich das Gebäude ganz und gar nicht in Einklang bringen. Zu schwer lasten das Schweigen und die Leere. Diese erzeugen Abwehr mit Signalwirkung. Achtung: Hier soll keiner hinein, hier hat eine Geschichte ein Ende gefunden. Will man mehr wissen, so muss man die verschlossenen Türen öffnen.

Diese Unzugänglichkeit ist in ihrem machtvollen Raumgestus ebenso abschreckend wie Neugierde weckend. Man will nun doch wissen, was sich hinter diesen Mauern verbirgt, wer hier zu Gange war. Schon lange, so scheint es, wird es kaum mehr, vielleicht gar nicht mehr benutzt. Man sieht keine Bewegungen. Man hört keine Geräusche. Fenster und Türen sind verschlossen. Man gewinnt den Eindruck, dass man es prototypisch mit einem Exemplar jener einsperrenden Raumkonfigurationen zu tun hat, die Michel Foucault in seinen Untersuchungen über die gelehrigen Körper und die disziplinierenden Maßnahmen der Gesellschaft analysiert hat. Aber mit welchem dieser Raumtypen? Mit einer Kaserne? Mit einem Gefängnis? Mit einem Spital? Mit einer Fabrik? Die Hinweise, die aus der Architektur kommen, sind nicht klar genug, um die Nutzung eindeutig identifizieren zu können. Die Gruppe von Jugendlichen, die sprechend und rauchend im hölzernen Pavillon im Park abhängt, hat diese Frage jedoch längstens für sich beantwortet. „Das Schloß” sagen sie zu dem dunklen Bau, und damit hat sich der rätselhafte Fall für sie mit einem Wort erledigt.

Die gebräuchliche Bezeichnung, unter der dieses Gebäude einmal bekannt gewesen ist, gibt jedoch nicht minder Rätsel auf. Es hieß schlicht B-Gebäude. Seine Errichtung erfolgte zwischen 1903 und 1905. Dieses B-Gebäude mit der Adresse Krotenthallergasse 3 im achten Wiener Gemeindebezirk war eine jüngere Zweigstelle des sogenannten A-Gebäudes. Das A-Gebäude, auf dessen Dach bis heute ein weithin sichtbarer, überdimensionaler Globus leuchtet und das am Standort Friedrich-Schmidt-Platz 3 zu finden ist, war ab 1839 der Sitz des k.k. Militärgeografischen Instituts. Diese Institution war der österreichisch-ungarischen Armee unterstellt, ab dem Jahr 1913 dann direkt dem Kriegsministerium. Das kasernenähnlich verschlossene, geheimnisumwitterteB-Gebäude in der Krotenthallergassebeim Hamerlingpark beherbergte die Zweigstelle des Militärgeografischen Instituts, nämlich das Kartografische Institut.

Vermessung ist eine durch und durch militärische Angelegenheit. Territoriale Kämpfe ziehen Landkarten nach sich. Landvermessungen ziehen territoriale Kämpfe nach sich. Ansprüche werden gestellt. Grenzen werden gezogen. Sie markieren. Aus Markierungen werden Demarkationslinien. Die beginnenden Nationalstaaten und die immer avancierter werdenden Techniken der Vermessung unterhalten eine enge Beziehung zueinander. Territorien machten sich ein Bild von sich selbst. Je detaillierter, je präziser, je einsichtiger, desto besser, da politisch relevanter. Besitzansprüche müssen einklagbar werden. Das Land wird gezähmt, indem es vermessen wird. Das Land wird ein staatliches Gebilde, indem es kartografisch erfasst wird. Die Technik der Kartografie macht aus den Gegenden ein Territorium. Auf den Karten wird dieses Territorium für alle als verbindlich festgeschrieben und damit einsichtig. Es bringt sich und seine Ansprüche zur Erscheinung. Es verortet die Subjekte. Als Karte nimmt man es schließlich zur Hand, um sich zu orientieren.

Wir wechseln den Schauplatz von Wien nach Mailand. Die Vorgeschichte der militärgeografischen Entwicklungen zur Zeit der Habsburger-Monarchie führt ins heutige Italien. Die Geschichte der Kriegsführung ist mit der Geschichte der Militärgeografie aufs Engste verknüpft. In Oberitalien hatte Napoleon ein solches mit Karten und Vermessung befasstes Institut initiiert. Im Jahr 1800 wurde das dortige Kriegsministerium gegründet. Corpo degl'Ingegneri Geografi hießen die Militärgeografen, die im Dienste dieses Ministeriums beauftragt waren, Landkarten zu sammeln, Kartografie zu betreiben. Nach dem Sturz Napoleons und nach der europäischen Neuordnung durch den Wiener Kongress wurde das Königreich Lombardei-Venetien den Habsburgern unterstellt. Das Militärgeografische Korps blieb unter den geänderten geopolitischen Konstallationen weiterhin bestehen. Es wechselte den Auftraggeber. Man begann 1817 mit der Arbeit am Franziszeischen Kataster, benannt nach Kaiser Franz I.

Zugleich wurden Arbeiten sukzessive nach Wien in das neu gegründete Militärgeografische Institut verlegt. 50 Millionen Grundstücke wurden aufgenommen. 164.357handgezeichnete, kolorierte Blätter hergestellt. Der sogenannte Stabile Kataster war der erste vollständige Liegenschaftskataster. Was gehört wem? Der Kataster weist es aus. Es ist der Besitz, der zählt. Dieser bestimmt die Verhältnisse. Alle Grundbücher der Nachfolgestaaten der österreichisch-ungarischen Monarchie beruhen auf diesem Stabilen Kataster bis hin zu den heutigen digitalen Katastralmappen. Die Schatten der Vermessung sind lang. Das Territorium ist immer die umkämpfte Ressource. Die Bevölkerung war in das Projekt der Gesamtvermessung aktiv miteinbezogen. Die Besitzer bezeichneten ihre Grenzen. Dazu waren sie aufgerufen. Mittels Steinen oder Pflöcken, Gruben oder Hügeln zogen sie die Grenzen um ihrenBesitz. Das Land als exploitierbare Ressourcespricht durch den Akt der Vermessung. Die unterschiedlichen Nutzungen des Besitzes waren anzuzeigen. So wurde unterschieden zwischen Wiesen, Äckern oder Weingärten. Was steuerlich nicht relevant war, interessierte die Vermesser nicht. In der günstigen Jahreszeit waren die Vermesser mit ihren Messtischen im Außendienst. Im Winter wurden die Blätter mit den zu vergebenden Nummern ausgearbeitet und in Gruppen vonBlättern zusammengefasst, in Mappen gesammelt, gemeinsam mit allen dieser Operation innewohnenden Teilen, den Skizzen, den Listen, den Hilfsaufzeichnungen. Diese jeweilige Urmappe hieß Katasteroperat.

Das Zivile und das Militärische gingen eine höchst produktive, bis heute im täglichen Kartengebrauch nachwirkende Vermessungsallianz ein.

Nach dem groß angelegten, steuerlich relevanten Vermessungsfeldzug in Sachen Stabiler Kataster, welcher im Jahr 1861 abgeschlossen worden war, machte sich das Militärgeografische Institut an das nächste Mammutprojekt, das der Franzisko-Josephinischen Landesaufnahme. Erstmals wurde dafür unser heute geläufiges System verwendet, das metrische. In Siebenbürgen wurde das Projekt begonnen, in Bosnien wurde es beendet. 18 Jahre dauerte es. Die Geschwindigkeit und die technische Präzision von Vermessung und Kartenerzeugung waren dermaßen beeindruckend, dass sofortdas Interesse anderer Staaten an dieser Methode geweckt war. So war ab 1889 eine eigensdafür eingerichtete geodätische Mission in Griechenland vermessend zugange.

Die zivilen und die militärischen Nutzungen stehen in einem dialektischen Verhältnis gouvernementaler Interessen zueinander. Diente der Kataster der Erfassung der besitzenden Subjekte aus Gründen der Steuer, so konzentrierte sich die Landesaufnahme auf das Terrain, auf die geografische Lage für militärische Zwecke. Auf die franzisko-josephinische Landesaufnahme folgte die Präzisionsaufnahme bis 1914, die 1987 endgültig abgeschlossen wurde. Sie steckt in jeder Karte, die wir heute von Österreich in die Hand nehmen, in jeder Karte, die wir digital navigieren, in jeder Karte, die im Schulatlas von Kindern aufgeschlagen wird.

Zurück zum B-Gebäude. Hier schlägt die militärische Geschichte der Kartografie noch ein weiteres Kapitel auf. Das Gelände, auf dem sich der heutige Hamerlingpark und die umliegende Jugendstilbebauung befinden, war davor das Areal der Josefstädter Reiterkaserne. Diese war im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts errichtet worden, zwischen der heutigen Josefstädter Straße, Albertgasse, Florianigasse und Schönborngasse. Dort wurde zeitgleich mit dem Abriss der Kaserne jenes Gebäude errichtet, das die Jugendlichen im Park als Schloss bezeichnen. Geplant und ausgeführt wurde es von Viktor Siedek und Karl Stiegler, Architekt und Baumeister, die zu jenem Netzwerk einflussreicher Großindustrieller gehörten, die das moderne Wien der Jahrhundertwende errichteten. Siedek, aus einer mährischen Großindustriellenfamilie stammend, hatte am Bosnien-Feldzug teilgenommen und war als Vorstand des Kasernenkonsortiums für die Parzellierung der Kasernengründe zuständig, in leitender Funktion in der Militärbauleitung tätig. Karl Stiegler war einer der führenden Bauunternehmer der letzten Jahre der Habsburger-Monarchie. Nicht nur das Kartografische Institut wurde von seiner Firma gebaut, sondern auch das Männerheim in der Meldemannstraße, das Handelsministerium oder das Kriegsministerium.

Ab 2013 wird das ehemalige Kartografische Institut, das nach dem Ersten Weltkrieg das Bundesamt für Eich- und Vermessungswesen beherbergte, eine neue Nutzung als edle Seniorenresidenz haben, Ärztezentrum, Dienstleistungsbetriebe, Kaffeehaus und Restaurant inklusive. Derzeit steht das Gebäude leer. Nur an der Ecke ist noch das Jugendcafé Roter Kakadu untergebracht. Doch abgesehen davon ist der Bau in jenem fragilen Bedeutungszwischenraum des Nicht-Mehr und Noch-Nicht. Zwischen-Ort und Zwischen-Zeit treffen einander. Die Geschichte ist im Stillstand. Genau dieser Zustand wird zum Moment der künstlerischen Entdeckung. Veronika Barnas wählte, gemeinsam mit mir, das Kartografische Institut als jenes zu öffnende und künstlerisch zu bespielende Gebäude aus, an dem die mehrjährige Serie kuratorischer Entdeckungen mit dem Namen unORTnung ihr Ende finden wird. unORTnung I bis IV, kuratiert von Veronika Barnas und Andrea Maria Krenn, lotete in einer spezifischen urbanen Dramaturgie folgende Ortsphänomene aus: ein Wohnzimmer, eine Fabrikhalle, einen Markt, ein Terrassencafé. UnORTung V, gemeinsam mit Georg Schöllhammer kuratiert, interpretierte temporär die ehemalige „Anker Brotfabrik“. Konzeptuell geht es in dieser kuratorischen Praxis immer um den Ort selbst. Es ist der Ort, der die Ideen fordert, der Ort, der die künstlerische Interaktion inspiriert und die physischen Architekturen wie die aus der Geschichte resultierenden Themen erschließt. Prinzipiell geht es um Räume abseits des etablierten Kunstgeschehens. Konsequenterweise schließt die Serie nun mit der politisch brisanten und ästhetisch produktiven Thematik der Vermessung. Mit der unORTnung wird das ehemalige Kartografische Institut in einer Weise öffentlich, wie es weder davor noch danach je der Fall war oder sein wird. Die Zugänglichkeit ist die zentrale Intervention. Die intensive Bespielung an drei Novembertagen ist jene Zwischen-Zeit, in der über 40 Künstlerinnen und Künstler ihre Vermessungen und Kartografien, ihre Raumreaktionen und Raumumdeutungen installieren werden. Zweifelsohne ist das Kartografische Institut, das in seinem Inneren neben beeindruckenden Raumfluchten und ewig langen Gängen auch einen 800 Quadratmeter großen ehemaligen Druckereisaal birgt, in diesen drei Tagen der gleichzeitig herausfordernde wie einladende Hauptakteur, dem mit Spannung zu begegnen ist. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.11.2010)

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