Buch Odessa

Odessa den Odessiten

(c) David Staretz
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Unser Autor fährt dennoch seit 20 Jahren in die Stadt am Schwarzen Meer.

Was ich dort so lange suche, ist mir nie klargeworden. Man sagt dann immer „wegen der Menschen“ oder „die einmalige Atmosphäre“. Vielleicht dies: Ein Mann mit einem Akazienblatt auf der Stirn steht in einem Holzpavillon mit neun gleichgerichteten Billardtischen. Über dem Eingang wacht der berühmte Kopf von Tutanchamun, riesenhaft groß aus Pappmache. Die Tische sind vollständig bedeckt mit Werkzeug, Bierflaschen, Hühnerkeulen. Ein paar andere Männer befinden sich im Raum. Wir treten auf den Vorplatz, blicken vom Hochufer auf die Kräne und Igor mit dem Blatt (er hatte sich beim Hämmern verletzt) stellt sich als Schiffsingenieur vor. „Ich habe die ganze Welt gesehen. Aber das hier . . . “, große Geste eines Indianerhäuptlings, gesenkte Stimme, „. . . this is . . . like . . . church!“

Meine kluge Frau, geboren in Sibirien, aufgewachsen in der Ukraine, schweigt immer tongue in cheek, wenn ich diese Geschichte mit Inbrunst zum Besten gebe. Und recht hat sie: „Dreck ist das alles. Ptui! Verfallen, verrottet, ruiniert. Diese großartig vorgetragene Liebe der Odessiten zu Odessa – warum lassen sie dann alles verfallen und zünden es selber an, wenn sie es weghaben wollen?“ Wie ein Jahr nach dieser Episode eben auch diesen Pavillon im Park Shev­tchenko, worin einst die Billard-Weltmeisterschaft ausgetragen worden war. Vikto­riya kann Odessiten die Stadt erklären, so ein Fischlein im Wasser ist sie hier, oder, wie Vladimir Jabotinski in seinem Odessa-Roman „Die Fünf“ sagt, „ein Kätzchen im Fell“. Sie bringt auch mir diese Stadt immer von Neuem nahe, etwa, wenn sie mir die Metalltüren von verrufensten Spelunken und Glastüren zu nobelsten Nachtclubs öffnet oder Bekanntschaften mit den Kleingaunern der Moldovanka pflegt.

Und ja, es herrscht so eine anziehende Uncoolness hier, ein völlig entwaffnendes, ironiefreies Leben von Menschen, die andere Sorgen haben. Auch der ältere Herr im Anzug, der mich auf offener Straße (und das ist immer eine Platanenallee hier), der mich also bittet, ob ich ihm die Krawatte binden möge.

Wie das Leben hier beschaffen ist, lässt sich, da man wenige Wohnungen kennt, und die besser nicht, am unmittelbarsten an den Autos ablesen. Es gibt drei Grundkategorien: Alte Shiguli-Kisten, reparierbar bis an das Ende der Tage. Einst seifenglatte, nunmehr grotesk entstellte Asien-Importe aus den Nullerjahren, für die es keinerlei Ersatzteile mehr gibt. Und die deutschen Fabrikate: Oligarchenkutschen, abweisend wie Geldtransporter, aber immer makellos sauber.

Alle zusammen bilden den Stadtverkehr, angereichert durch halböffentliche Kleinbusse (Marschrutki – die Pointe ins Deutsche setzt meist mit Verzögerung ein), durch tapfere Straßenbahnen mit richtig Federweg im Fahrwerk, um die Schienenverhebungen auszugleichen, und ergänzt durch Trolleybusse, deren Führstangen ständig von den Stromkabeln rutschen. Die Chauffeurinnen kämpfen in Schnee und Sturm mit langen Holzspeeren, um die Sache wieder einzuhängen.

Aus alledem und mehr, in Bild und Text und Bildgeschichten, hat sich ein Buch zusammengestellt, ODESSA, das ich immer wieder selbst zur Hand nehme, weil Viktoriya morgens wissen will: „Was ist unser Motto des Tages?“ Dann schlage ich blind eine Doppelseite auf und – ja, das ist es dann.

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