Ukraine-Würdigungspreis.

„Ich würde mich schämen, nackt zu sterben“

(c) Peter Kufner
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Ich bewundere den Mut von Journalistinnen wie Vira Kuryko, die auch jetzt in der Ukraine bleiben. Damit wir erfahren, was dort gerade passiert. Es wichtig, zu wissen, was in diesem Krieg passiert.

Mein Wortschatz reicht nicht aus, um zu beschreiben, wie sich ein Bombenflugzeug am Himmel über dem Kopf anhört oder anfühlt. Bis jetzt spüre ich ihn wie einen kühlen unaufhörlichen Schauer im ganzen Körper. Wie ein Knirschen des Hauses und sein Wackeln, als würde das Haus bloß aus Papier und Kleber gebaut sein. Eine Bombe im Abstand eines zehnminütigen Fußmarschs von uns entfernt, zerstörte das Stadion und die Bücherei, eines meiner Lieblingsgebäude in der Stadt. Chernihiw, überwiegend einstöckig und aus Holz gebaut, auf dessen Architektur wir noch vor Kurzem so stolz waren, wurde nun zu einem Albtraum. Häuser flammen auf und verbrennen augenblicklich wie Zündholzschachteln.“

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So berichtete die ukrainische Journalistin Vira Kuryko Mitte März aus ihrer Heimatstadt Chernihiw, nördlich von Kiew, einer der ältesten und bedeutendsten Städte des mittelalterlichen Großfürstentums der Kiewer Rus. Seit Wochen bleibt Chernihiw fast vollkommen von russischen Truppen blockiert. Am Anfang des Krieges flüchtete Vira mit ihrem Mann und zwei Hunden in die Westukraine, am 3. März, als bereits Millionen das Land verließen, kehrte sie nach Chernihiw zurück. Ihre erste Kriegsreportage beendete sie mit dem Satz: „Wir sind zu Hause.“

Vira Kurykos klarer Stil

Ich kenne Vira Kuryko nicht persönlich, nur ihr erstes Buch, „Die Straße der Mitschuldigen“, das 2020 auf dem ukrainischen Buchmarkt viel besprochen und ausgezeichnet wurde. In dieser historischen Reportage beschreibt die Journalistin die Schicksale von ein paar Nachbarn, die in der Sowjetzeit den ukrainischen Bürgerrechtler und Dissidenten Lewko Lukjanenko verleumdet haben. Dank ihrer falschen Aussagen wurde Lukjanenko zu zehn Jahren Haft verurteilt und erst kurz vor dem Mauerfall rehabilitiert und freigelassen. Ich habe das Buch auch deshalb sehr wichtig gefunden, weil die Aufarbeitung der eigenen Verantwortung für die sowjetische Vergangenheit ein großer Schritt der Ukraine Richtung Erwachsenwerden bedeutet. Vira Kuryko ist es gelungen, Menschen in sanften Gesprächen zu den Geständnissen und Reflexionen zu bringen, ihr Schreibstil ist sanft und besonders klar, kunstvoll und durchdacht.

Ganz anders sind ihre Kriegsreportagen. Sie heißen „Heute ist der achte Tag, seitdem ich von meinem Vater nichts mehr gehört habe“, „Die Stadt aus Holz ist fast vollkommen blockiert“, „Zehn Tage in Chernihiw“. Einfach betitelt sind diese Texte auch inhaltlich unzulänglich, sprachlich karg, es kommen Fehler vor, sie sind verletzlich, wie eine nackte Frau unter der Dusche. Auch als das Leitungswasser noch vorhanden war, duschte ich mich trotzdem nicht, schreibt die Journalistin, „weil ich mich schämen würde, als Nackte zu sterben.“

„Eines Tages war es still genug, und ich fuhr mit meinem Fahrrad durch die Stadt. Manchmal überkam mich das Gefühl, es sei alles in Ordnung, wie früher. Hier unser Kiefernwald, mitten in Chernihiw, wo wir immer so gern das Wochenende verbrachten. Viele Jahre verteidigten die Bürger diesen Wald vor der Stadtverwaltung, die die Bäume fällen und den Platz bebauen wollte. Heute werden hier Menschen in einfachen hölzernen Särgen begraben, weil der Stadtfriedhof ständig beschossen wird. Ich besuchte meine Freundin. Sie kam aus dem Keller nach oben, wir umarmten uns. Wir hatten uns mehrere Wochen nicht gesehen. Es tat so gut, zum ersten Mal weinen zu können. Meine Freundin gab mir sechs Äpfel, ich bat ihr stattdessen Zigaretten an, aber sie sagte, ich habe noch welche.“

Bisher zwölf Journalistinnen und Journalisten getötet

Wie der Alltag im Krieg aussieht, wie die Menschen Menschen bleiben oder ob sie doch zu Tieren werden, wie sie überleben, wie sie sterben, wie sie lieben – all das erfahren wir nur dank solcher Texte. Es ist nicht leicht, sie zu lesen, so wie es nicht leicht ist, sie zu schreiben. Ich bewundere den Mut dieser Frau aber auch vieler anderer, die auch jetzt, trotz der Gefahr gefangen oder gar ermordet zu werden, in der Ukraine bleiben und versuchen weiter ihre Arbeit zu machen. Damit wir erfahren, was dort gerade passiert.

Insgesamt zwölf Journalistinnen und Journalisten, Kameraleute und Fotografen sind in der Ukraine bereits ums Leben gekommen. Darunter auch die russische Journalistin Oksana Baulina, die nach Kiew gekommen ist, um die russischen Kriegsverbrechen zu dokumentieren. Viktoria Roschtschyna, eine Journalistin von Hromadske TV, verbrachte eine Woche in russischer Gefangenschaft in Berdjansk. Oleg Baturyn, ein Journalist aus Nowa Kachowka, der ebenso entführt und gefoltert worden war, schrieb nach seiner Freilassung: „Fast ohne Nahrung. Ein paar Tage fast ohne Trinkwasser. Ich wusste nicht, wo ich bin, aber sie wussten genau, wofür. Sie wollten den anderen Journalisten ein Zeichen geben: Falls du weiterarbeitest, wirst du zerdrückt, du wirst tot sein.“ Journalisten und Journalistinnen bekommen Nachrichten mit Drohungen, dass sie im Fall der russischen Okkupation als Terroristen verurteilt und für 15 Jahre im Gefängnis sein werden. Mehrere Medienagenturen haben über den Empfang solcher Drohungen berichtet. Und trotzdem arbeiten sie weiter. Sie haben Angst, sie flüchten, und dann kommen sie wieder.

Sie arbeiten weiter

Am 22. März, als eine Granate unweit vor ihr explodiert war, flüchtete Vira Kuryko aus Chernihiw zum zweiten Mal. Nun, schwer traumatisiert, bleibt sie in Lwiw (Lemberg), heute ist eine weitere Reportage von ihr erschienen, ihr Mann ist im Krieg.

Ich möchte diesen Ukraine-Würdigungspreis an diese tapfere Frau weitergeben, mit der Bitte um Verständnis, dass praktisch alle ukrainischen Journalistinnen und Journalisten dringend Unterstützung brauchen. Alle Medien wie „Suspilne“ und „Hromadske Sender“, die Internet-Portale LB (Liwyj Bereg), HB (Nowoje Wremja) etc. brauchen Unterstützung.

Ich bedanke mich herzlich bei dem Frauennetzwerk Medien und der Wien Holding für ihre Unterstützung und für die Möglichkeit, heute hierherzukommen und diese Worte an Sie, liebe österreichische Journalistinnen, zu richten. Auch Ihnen möchte ich für Ihre tägliche Berichterstattungen über den verheerenden Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine danken.

Möge die Wahrheit über die Lüge siegen. Möge die Wahrheit siegen auch über den Tod.

Diese Rede hielt Tanja Maljartschuk am vergangenen Dienstag im Rahmen der Verleihung der Journalistinnenpreise des Frauennetzwerks Medien, sie nahm den Würdigungspreis für ukrainische Journalistinnen im Namen der Journalistin Vira Kuryko entgegen. Der Würdigungspreis ist mit 5000 Euro dotiert und von der Wien Holding gestiftet. Die Journalistinnenpreise für 2021 und 2022 gehen an Silvana Meixner (ORF, „Heimat, fremde Heimat“) und Manuela Raidl (PULS24). Die Jungjournalistinnenpreise erhalten Eja Kapeller („Dossier“) und Christina Pausackl („Die Zeit“). Die Preise wurden von Styria Media Group und Wien Holding gestiftet, die Jungjournalistinnenpreise (je 1000 Euro) von dem Privatsender Puls4.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DIE AUTORIN

Tanja Maljartschuk (* 1983) ist Schriftstellerin und Journalistin, geboren in der Ukraine, die seit 2011 in Wien lebt. Sie ist Bachmann-Preisträgerin 2018. Zuletzt erschien der Roman „Blauwal der Erinnerung“ (2019, Kiepenheuer & Witsch, übersetzt von Maria Weissenböck). Sie schreibt regelmäßig Kolumnen u.a. für „Zeit online“, größere Aufmerksamkeit bekam ihr Text für die „FAZ“: „Russland, mein Russland, wie liebe ich dich“ (10. 3. 2014)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.04.2022)

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