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Das Interrail-Ticket wird 50

Santa Apolónia: Lissabons altmodischer Hauptbahnhof, seit einem halben Jahrhundert der westliche  Interrail-Brennpunkt.
Santa Apolónia: Lissabons altmodischer Hauptbahnhof, seit einem halben Jahrhundert der westliche Interrail-Brennpunkt.Amanshauser
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50 Jahre Interrail-Ticket. Zwölf Millionen Passagiere. Eine Lebensform, die jung geblieben ist.

Wohin fährst du in den Ferien?“, fragte mich meine Tante im Jahr 1986. „Interrail“, antwortete ich. „Interrail ist kein Ort und kein Land!“ Sie wolle nicht den Namen des Tickets wissen, und sie frage sich, ob wir überhaupt etwas tun würden außer Zugfahren. ­

„Ihr bleibts ja überall nur einen Tag und sehts absolut nichts!“ Irgendwie hatte sie recht. Und doch entsprach diese Reiseform unserer Vorstellung von der großen, weiten Welt. „Man kann mit Interrail überall hin!“, warf ich ein. „Ihr sehts doch nur Bahnhöfe“, gab meine Tante zurück. Das stimmte: In Venedig lungerten wir in Hundertschaften vor dem Bahnhof, bis eines Tages die große Party verboten wurde.

Es ging um Lebensgefühl, Bekanntschaften, Unterwegssein. Oft bildeten sich Selbsthilfegruppen, in denen Schwächlinge unter uns jammerten, wie wem wann was wo gestohlen wurde. (Solche Opfercharaktere ließen sich kurz nach Ankunft schon in Bahnhofsnähe aus­sackeln.) Die Interrail-Matura hatte geschafft, wer auf Finnisch bis drei ­zählen konnte – iksi, gaksi, kolmen. Ich lernte es zur Sicherheit bis zehn. Das schafften echt wenige. Ab sieben wird es schwierig. Finnisch ab sieben war die Interrail-Professur.

Im März 1972 hatten sich 21 Bahngesellschaften zusammengeschlossen und ein Europa-Monatsticket für unter 21-Jährige angeboten. Eine Erfolgsgeschichte: Im ersten Jahr verkauften sich 87.000 Tickets, es wurden immer mehr, 1990 war ich einer von 400.000 Interrailern. Das Gesicht der Sechserabteile, ja das der europäischen Eisenbahn veränderte sich durch uns Rucksack- und Schlafsackträger, die Übernachtungen einsparten, indem sie in Nachtzügen schliefen, oft auch auf verstopften Gängen.


Der Billigflieger-Aufschwung erschütterte unsere Kultur. Zur Jahrtausendwende hatten sich die Ticketverkäufe geviertelt. Die mittlerweile 33 Eisen­bahnen reagierten, die Altersgrenze ­
fiel, ein Gestrüpp an neuen Fahrpässen ­entstand, inzwischen perverserweise sogar einer für die erste Klasse. 2018 verkauften sie wieder 300.000 Tickets. ­Ruck­säcke und Schlafsäcke sind heute ­marginalisiert, Interrail feiert den 50.  Geburtstag. Vorerst.

("Die Presse Schaufenster" vom 25.03.2022)

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