Borderline

Wahnsinnige Tiefs, wunderschöne Hochs

Lonely sad boy at home
Lonely sad boy at home(c) Getty Images
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Die Borderline-Persönlichkeitsstörung ist ein sehr komplexes psychisches Krankheitsbild, daher müssen auch Diagnostik und Therapie vielfältig sein.

Gesundheitsinfo

Schon mit 15 wurde ich immer schnell wütend und fing bei den kleinsten Dingen an zu weinen“, sagt eine Teilnehmerin der Andererseits Selbsthilfegruppe für Borderline-Betroffene. Und sie hatte Tage, an denen sie gar nichts fühlte. Eine weitere Betroffene hatte bereits mit vier Jahren ständig Angst davor, allein zu sein und flüchtete in eine Fantasiewelt. Ihre Wutausbrüche eskalierten in die Sachbeschädigung. „Trigger können bei Borderlinern Emotionen aus der Kindheit hervorrufen, bei denen man sich von der ganzen Welt verlassen fühlt und daraufhin neigt man dazu, alle Kontakte aus dem Handy zu löschen, oder seinen langjährigen Partner Hals über Kopf zu verlassen.“

Angst vor dem Verlassenwerden. „Die Borderline-Persönlichkeitsstörung verbirgt sich häufig hinter anderen Störungen. Patienten kommen mit Symptomen wie Panikattacken, depressiven Episoden, Stimmungsschwankungen oder unkontrollierbaren Gefühlsausbrüchen“, sagt Diana Schaffer, Klinische und Gesundheitspsychologin in Klagenfurt. Meistens seien diese auf Traumata in der Kindheit zurückzuführen, es wurden damals kaum Grenzen gesetzt oder wenig Beachtung geschenkt. „Das macht eine tiefgreifende Angst vor dem Verlassenwerden, aber auch vor tieferen Beziehungen“, sagt Schaffer. Häufig hatten auch die Eltern von Borderlinern psychische Erkrankungen oder waren drogenabhängig. Zwar leben Betroffene mit einem ständigen inneren Konflikt, doch funktionieren sie im Alltag recht gut, sind vielleicht sogar in Führungspositionen. Wenn Konflikte auftreten, bricht diese instabile Emotionalität schnell durch und verursacht Probleme für Mitarbeiter, erklärt der Wiener Psychotherapeut Thomas Platz. Patienten sind oft sehr empathisch und feinfühlig und leiden stark unter ihrer Krankheit, sagt Schaffer. Außerdem charakteristisch: ein schneller Wechsel von Emotionen. „Ich hatte eine Patientin, die vormittags aufgelöst und psychotisch war, doch später konnte sie dann einen Ball besuchen“, berichtet Platz.

Diagnostiziert wird anhand von neun Kriterien - treffen fünf davon zu, so ist die Diagnose Borderline (siehe Kasten). Schaffer findet es wichtig, das Label Borderline nicht als unheilbar anzusehen. Kognitive Skills, medikamentöse Behandlung, das richtige Umfeld und eine erfüllende Aufgabe können zur Heilung beitragen, sagt sie. Borderliner können durchaus sogenannte Objektkonsistenz entwickeln: „Man kann lernen, dass nahestehende Personen, auch wenn sie weggehen, im Herzen noch da sind und zurückkommen werden. Tritt das ein, würde die Borderline-Diagnose nicht mehr zutreffen“, sagt Schaffer.

Von Einsicht bis Psychose. Es gibt verschiedene Ausprägungen, weiß Platz. Personen etwa, die krankheitseinsichtig sind und mit einem Therapeuten an sich arbeiten wollen. Dann gebe es oft solche, wo der Wille zur Therapie zeitweise da ist und dann wieder abbricht. „Sie halten die Konstanz der Beziehung zum Therapeuten nicht durch, weil sie generell Probleme mit der Aufrechterhaltung einer Beziehung haben.“ Schwere Fälle überschreiten die Grenze zur Psychose und müssen stationär aufgenommen werden.

Aufgrund der Komplexität der Krankheit muss auch die Therapie flexibel sein, so die Eperten. „Als Therapeut muss man darauf vorbereitet sein, mal vom Patienten geschätzt zu werden und am nächsten Tag ist man der größte Idiot“, sagt Platz. Das liege an der Schwarz-Weiß-Malerei, an Idealisierung und Verteufelung. „Da Borderliner meist schlechte Beziehungserfahrungen gemacht haben, ist es wichtig, in der Therapie eine stabile Beziehung aufzubauen“, sagt Schaffer. „Dann weiß der Patient, er hat jemanden, der ihn so nimmt, wie er ist.“ Außerdem ist das Setzen von Grenzen wichtig, weil Borderliner im Lauf ihres Lebens entweder zu wenige oder zu viele erfahren haben. Schaffer: „Sie müssen lernen, dass Grenzen nichts Schlechtes sind und mit ihnen umzugehen.“ Zudem können Atemtechniken, Medidation oder Sport helfen, übermannende Gefühle, die sonst in schädigendem Verhalten resultieren, mit anderen Skills zu ersetzen. „Es geht darum, früh genug zu erkennen: Wenn ich jetzt so weiter mache, kommt es zu einem Ausbruch, also biege ich lieber woanders ab.“ Ein riesiger Teil sei die Traumaarbeit, jedoch müsse man abschätzen, wie weit man hier gehen kann, um negative Erfahrungen zu neutralisieren. „Dann versteht auch der Körper: Damals war ich ausgeliefert und konnte nicht anders reagieren, heute bin ich in einer anderen Situation.“ Auch das Entdecken der persönlicher Stärken kann helfen: Wer bin ich, was kann ich?

Vielseitige Therapie. Je breiter ein Therapeut ausgebildet ist, desto vielfältiger kann er auf die Bedürfnisse verschiedener Patienten eingehen, sagt Platz. Verhaltenstherapeuten werden ihre speziellen Fähigkeiten anwenden, tiefenpsychologisch Ausgebildete versuchen, unbewusste Hintergründe aufzuarbeiten. Ein systemischer Therapeut bezieht die Familie und das Umfeld mit ein. Und Psychiater setzen mitunter, wenn vom Patienten gewünscht, auf Medikamente gegen Instabilität und Impulskontrollstörung. Diese entfernen Spannungsspitzen und ermöglichen innere Resistenz. „Ich erkläre meinen Patienten, dass sie nichts dafür können, wenn ihre Emotionalität viel rascher ist als ihre Vernunft“, sagt Platz. Emotionen entstehen in den Kerngebieten im Gehirn, diese Nervenzellen feuern bei Borderlinern viel schneller als die in der Hirnrinde lokalisierte Vernunft. Bei der Art der Medikamente kommt es auch auf die Ausprägung der Störung an, erklärt Platz. Depressive erhalten Antidepressiva, wer unter Wutausbrüchen leidet, bei dem können Neuroleptika eingesetzt werden. Mit Angst Überflutete können kurzzeitig Benzodiazepine einnehmen. Wie bei der Therapie sollten auch Medikamente divers eingesetzt werden.

Generell ist Aufklärung und Akzeptanz sehr wichtig, sagen beide Experten. So können Betroffene sich outen, einer Selbsthilfegruppe beitreten, Partner und Familie miteinbeziehen. „So tun sich sie und ihr Umfeld viel leichter“, sagt Platz. Prozesse laufen bei Borderlinern auf einer unbewussten Ebene ab, sie können nichts dafür, wie sie reagieren, betont Schaffer. Ihre Reaktionen sind reflexartig, ähnlich wie das Schließen der Augen, wenn etwas ihnen zu nahe kommt. „Diese Reflexe wurden bei Borderlinern aufgrund ihrer Geschichte gelernt und sind nicht böse gemeint.“ Durch eine Therapie und mithilfe des Umfelds kann eine hohe Lebensqualität erreicht werden. Zudem gehen auch positive Charaktereigenschaftenschaften mit der Störung einher, etwa ein besseres Gespür. „Sie können wahnsinnige Tiefs erleben, aber auch wunderschöne Hochs.“
Borderline-Kriterien - fünf davon müssen für eine Diagnose erfüllt sein

  • Verzweifeltes Bemühen, vermutetes Verlassenwerden zu vermeiden.
  • Ein Muster von instabilen, intensiven Beziehungen, die zwischen Idealisierung und Entwertung hin- und herschalten.
  • Störung der Identität.
  • Impulsivität bis hin zur Selbstschädigung (Promiskuität, exzessive Geldausgaben, Essstörungen).
  • Suizidales Verhalten oder Suizidandeutungen.
  • Extreme Stimmungsschwankungen.
  • Chronische Gefühle von Leere.
  • Heftige, unkontrollierbare Wut.
  • Paranoide Vorstellungen, von sich selbst abgespalten sein, die Welt nur durch einen Schleier wahrnehmen.

Dieser Artikel stammt aus dem Gesundheitsmagazin April 2022. Hier können Sie das gesamte Magazin lesen.

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