Quergeschrieben

Der Priester, der Patriarch und Dostojewskis Großinquisitor

Während die russisch-orthodoxe Hierarchie nationalistischen Hass predigt, revidiert Papst Franziskus die herkömmliche Lehre vom „gerechten Krieg“.

Irgendwo in der Nähe von Kostroma predigte am Sonntag, dem 6. März, in seiner kleinen Kirche ein orthodoxer Priester gegen den Krieg. Vielleicht wurde er von einem Gläubigen denunziert, der während des Gottesdienstes eine SMS verschickte, jedenfalls wurde er beim Verlassen der Kirche verhaftet. Die Anklage? „Antimilitaristische Propaganda in Anwesenheit von zehn Gläubigen“. Pater Ioann Burdin habe „die russischen Streitkräfte diskreditiert, indem er die Gläubigen davon überzeugen wollte, dass die ukrainischen Städte unter russischem Beschuss stünden und dass dort Brüder und Schwestern in Christus getötet würden“.

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Der französische Slawist Georges Nivat berichtet diese Episode in einem Tagebuch, das er seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine führt („Philosophie Magazin“, April/Mai 2022). An demselben „Sonntag der Vergebung“, mit dem die orthodoxe Fastenzeit beginnt, appellierte Patriarch Kyrill I. in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale an die Gläubigen, „Mitgefühl mit den Menschen in den Republiken Donezk und Luhansk“ zu haben. Nivat schreibt weiter: „Seit acht Jahren würden sie unterdrückt und von Nazis regiert, die ihrerseits Marionetten des Westens seien, ,eines entarteten Westens‘, für den ,Schwulenparaden‘ ein Loyalitätstest und ,eine Art Passierschein‘ in diese ,glückliche‘ Welt seien. Deshalb, so Kyrill weiter, gehe es heute in den internationalen Beziehungen nicht nur um Politik: ,Es geht um etwas, was viel größer ist als die Politik. Es geht um die Rettung der Menschheit.‘“ Es bleibe den Theologen überlassen, schreibt Georges Nivat, „dieses neue Konzept der christlichen Vergebung zu analysieren. Auf jeden Fall ist es das andere Ende dessen, was Pater Ioann in seiner bescheidenen Dorfkirche gepredigt hat.“

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