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Wenn Türme umstürzen

urmeinsturzphobie: Mein fotografischer Versuch, den Qutub Minar schief darzustellen.
urmeinsturzphobie: Mein fotografischer Versuch, den Qutub Minar schief darzustellen. Martin Amanshauser
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Mein Gruselgefühl bei der Attacke auf den Fernsehturm von Kiew: die neurotische Turmangst.

Meine Lieblingsfigur im Schach sind Türme. Auch auf echte Türme muss ich hinauf. Ich mag sie. Wenn sie umstürzen, überfällt mich ziemliche Betrübnis.


Das Video vom Putin’schen Raketen­beschuss des TV-Turms von Kiew (fünf Opfer) löste in mir körperliches Unbe­hagen aus. Bei Türmen in Not spüre ich Mitleid wie mit Lebewesen. Mir unverständlich, menschliche Brutalität, die sich gegen Türme richtet! Bitte nicht falsch verstehen, privat ziehe ich die Menschen den Türmen schon vor. Doch vergleiche ich den Zusammenbruch eines Turms mit dem Einsturz einer Brücke, so würde ich letzteren – und ich schätze Brücken – unter Umständen eher in Kauf nehmen.

Ein Splatterfoto zeigt den Einsturz des Campanile vom Markusplatz im Jahre 1902 (einziges Opfer: die Katze des Hausmeisters). Am Vortag waren die Metallanker des Turms für den Einbau eines Aufzugs demontiert worden. Was blieb: ein Haufen Schutt. Mulmig war mir auch 1998 bei meinem Besuch des World Trade Centers (2791 Opfer bei den Anschlägen 2001). Ich blickte in die Tiefe Manhattans und fragte mich, wie viele Jahrhunderte ein solches Bauwerk wohl stehen würde. Vor drei Jahren stand ich in New Delhi vor dem Qutub Minar, in dessen engem Stiegenhaus es 1981 zu einer Massenpanik kam (45 Opfer). ­Seitdem gilt Besuchersperre. Zum Glück stürzte der Turm nicht um. Den Schiefen Turm von Pisa, Vater aller Turmtraumata (bisher keine Opfer), bestieg ich hingegen vor seiner Renovierung, sah ihn noch ohne die tristen Sicherheits­gitter. Vielleicht kommt meine Turmeinsturzangst von einer frühkindlichen Erzählung über ihn? Um diesen chronischen Turmsturzkandidaten sorgen sich allerdings Bauingenieursgenerationen dermaßen rührend, dass er wohl nie ­kippen wird.


Übrigens verabscheue ich ebenfalls, wenn Kräne umfallen, die Cousins oder Cousinen der Türme. Als in Wien einst ein Kran umkippte, gab sein Besitzer gelassen zu Protokoll: „Kräne sind immer umgestürzt und werden auch weiterhin umstürzen!“ – ein in seiner fröhlichen Indolenz unvergesslicher Satz. Hätte das Schachspiel neben ­Türmen auch Kräne, wären übrigens
das meine Lieblings­figuren.

("Die Presse Schaufenster" vom 08.04.2022)

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